Jeder Moment hat Gewicht - Der Wert der Zeit in der Palliativmedizin
Ein Interview mit Primarius Dr. Michael Zink
Zeit ist in der modernen Medizin oft knapp bemessen. In der Palliativmedizin jedoch erhält sie eine besondere Bedeutung: als Raum für Zuwendung, als Grundlage für Vertrauen und als zentrales Qualitätsmerkmal einer würdevollen Begleitung. Auf der Palliativstation „Johannes von Gott“ am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder St. Veit/Glan steht genau dieser bewusste Umgang mit Zeit im Mittelpunkt.
Die Station begleitet Menschen mit unheilbaren, fortschreitenden Erkrankungen sowie deren Angehörige in einer besonders sensiblen Lebensphase. Ziel ist es, Lebensqualität zu erhalten, Symptome zu lindern und individuelle Bedürfnisse ernst zu nehmen – medizinisch, pflegerisch, psychologisch, sozial und spirituell. Dabei geht es nicht um ein Aufgeben, sondern um eine aktive, ganzheitliche Form der Betreuung.
Zink, FESAIC, OÄ Dr. Doris Lackinger, DGKP Sybille Fellner (Foto: KH Barmherzige Brüder St. Veit)
Ein interdisziplinäres Team aus Ärzt:innen, Pflegefachkräften, Therapeut:innen, Psycholog:innen, Seelsorger:innen, Sozialarbeiter:innen und Ehrenamtlichen arbeitet eng zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es, Patient:innen als ganze Menschen wahrzunehmen und ihnen Sicherheit, Halt und Verlässlichkeit zu geben. Besonders in der Advents- und Weihnachtszeit, wenn Emotionen intensiver werden, spielt diese Haltung eine zentrale Rolle.
Prim. Priv.-Doz. Dr. Michael Zink, FESAIC, Abteilungsvorstand und Leiter der Palliativstation, beschreibt Zeit als Wegbegleiterin und kostbares Gut: Zeit für Gespräche, für kleine Rituale, für bewusste Nähe. Sie schafft Momente des Ankommens, der Entlastung und – gerade in schweren Situationen – der Menschlichkeit.
Interview mit Prim. Priv.-Doz. Dr. Michael Zink
Herr Primarius Zink, wie gestaltet sich die Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen auf der Palliativstation?
Zink: Die Palliativmedizin lebt von Teamarbeit. Auf unserer Station arbeiten Ärzt:innen, Pflegefachkräfte, Physiotherapeut:innen, Psycholog:innen, Seelsorger:innen, Sozialarbeiter:innen und Ehrenamtliche eng zusammen. Jede:r bringt seinen professionellen Blickwinkel ein, aber wir teilen ein gemeinsames Ziel: den Menschen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Wir besprechen täglich, was jede:r Einzelne braucht – medizinisch, pflegerisch, psychologisch oder spirituell. Diese enge Abstimmung sorgt für Sicherheit und ein Gefühl des Getragenseins, sowohl für die Patient:innen als auch für deren Angehörige.
Können Sie anhand konkreter Beispiele beschreiben, wie interdisziplinäres Teamwork in der „besinnlichen Jahreszeit“ zur ganzheitlichen Betreuung beiträgt?
Zink: Gerade in der Adventzeit erleben wir, dass Emotionen intensiver werden – Hoffnung, Abschied, Rückschau. Das Team reagiert darauf sehr sensibel. Unsere Musiktherapie kann etwa dabei helfen, innere Ruhe zu finden oder Erinnerungen liebevoll wachzurufen. Die Seelsorge führt Gespräche, die Halt geben und oft ungeahnte Entlastung bringen. Die Pflege sorgt dafür, dass kleine Rituale – ein warmes Getränk, ein ruhiger Moment im Fensterlicht – bewusst gestaltet werden. Diese Zeit ist nicht immer leicht, aber sie kann sehr wertvoll sein, wenn Menschen spüren, dass wir ihnen mit Zeit und Aufmerksamkeit begegnen.
Mit über 20 Jahren Erfahrung auf der Palliativstation in St. Veit, die damals die erste ihrer Art in Kärnten war, haben Sie einen besonderen Blick auf die Entwicklung der palliativen Versorgung. Wie hat sich die Arbeit verändert?
Zink: Es hat sich enorm viel getan. Früher lag der Fokus vor allem auf der Symptomkontrolle – Schmerz, Atemnot, Übelkeit. Heute denken wir noch umfassender: Wir sprechen viel offener über Bedürfnisse, Ängste, Lebensziele und Abschiedsfragen. Die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen ist viel enger geworden, und die Palliativmedizin wird heute als selbstverständlicher Teil der modernen Medizin wahrgenommen. Das Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich ebenfalls verändert. Viele Menschen wissen inzwischen, dass Palliativmedizin kein „Aufgeben“ bedeutet, sondern eine sehr aktive Form der Zuwendung und Unterstützung.
Was ändert sich für die Patient:innen, wenn sie von einer normalen Station auf die Palliativstation kommen?
Zink: Viele spüren sofort, dass sich der Rhythmus ändert. Wir nehmen uns Zeit – für Gespräche, für Sorgen, für Bedürfnisse, die vielleicht bisher keinen Raum hatten. Der Alltag ist ruhiger, individueller. Die Patient:innen erleben häufig das Gefühl, „anzukommen“. Medizinisch bedeutet die Verlegung meist, dass wir Symptome enger begleiten und Therapien besser auf die aktuelle Lebenssituation abstimmen können. Viele Patient:innen empfinden das als entlastend.
Wie werden die Angehörigen in die palliative Therapie eingebunden?
Zink: Angehörige sind ein zentraler Teil unserer Arbeit. Sie tragen viel – emotional, organisatorisch, manchmal auch körperlich. Wir versuchen daher, ihnen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie den Patient:innen. Das kann ein Gespräch mit der Psychologin sein, eine Beratung durch den Sozialdienst oder einfach ein offenes Ohr in einem schwierigen Moment. Wir möchten, dass Angehörige sich gut begleitet fühlen und wissen, dass sie nicht allein sind. Auch sie brauchen Raum für Trauer, Entlastung und Zeit.
Wie soll man sich verhalten, wenn man Patient:innen auf der Palliativstation besucht?
Zink: Am wichtigsten ist: authentisch bleiben. Man muss keine perfekten Worte finden. Oft reicht es, einfach da zu sein, zuzuhören, die Hand zu halten. Es ist hilfreich, ruhig zu sprechen, auf die Bedürfnisse der Patient:innen zu achten und sich an deren Energie und Tagesverfassung zu orientieren. Und: Kurzbesuche sind manchmal wertvoller als lange. Es geht nicht um „Programm“, sondern um ehrliche Begegnung. Kleine Gesten können große Bedeutung haben.
Wie erleben Patient:innen die Advents- und Weihnachtszeit auf der Palliativstation?
Zink: Viele Patient:innen empfinden die Advents- und Weihnachtszeit als besonders intensive Phase. Der festlich geschmückte Christbaum, Lichter und kleine Rituale schaffen eine warme Atmosphäre und vermitteln Geborgenheit. Gleichzeitig geben wir Raum für persönliche Wünsche: Manche feiern noch einmal bewusst ein „Fest des Lebens“ mit ihren Angehörigen – ob Weihnachten, ein Hochzeitstag oder sogar eine kleine Hochzeit. Solche besonderen Momente werden auf der Station ermöglicht und oft sehr dankbar angenommen. Unser Ziel ist es, diese Wochen so zu gestalten, dass Patient:innen sich gehalten fühlen: durch Nähe, durch achtsame Begleitung und durch das Gefühl, dass jemand da ist, der ihre Bedürfnisse ernst nimmt.
Interview: K. Kogler
Zur Person:
Prim. Priv.-Doz. Dr. Michael Zink, FESAIC, leitet die Abteilungen für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder St. Veit/Glan sowie am Elisabethinen-Krankenhaus Klagenfurt. Seit 2024 ist er Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).
Mit über 20 Jahren Erfahrung in der Palliativ- und Transplantationsmedizin zählt Dr. Zink zu den prägenden Expert:innen seines Fachs. Sein medizinisches Handeln ist geprägt von einer klaren patient:innenorientierten Haltung, die wissenschaftliche Exzellenz mit menschlicher Nähe verbindet. Besonders wichtig ist ihm eine Medizin, die den Menschen in seiner Gesamtheit sieht und Zeit als wesentlichen Bestandteil von Würde und Lebensqualität versteht.