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Handke könnte in Nobelpreisrede “Schatten überspringen”

Wiener Theologieprofessor und Literaturkenner Jan-Heiner Tück äußert sich in "Christ in der Gegenwart" zur Frage, ob man Autor ehren kann, der Sympathien für Milosevic äußerte

München, 17.10.2019 (KAP) "Politisch umstritten, literarisch jedoch erfreulich" ist für den Wiener Theologieprofessor und Literaturkenner Jan-Heiner Tück die Auszeichnung des österreichischen Schriftstellers Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis 2019. In einer ausführlichen Würdigung geht Tück in der aktuellen Ausgabe der Herder-Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" auf die Kritik ein, die sich abseits der Auszeichnung an der serbienfreundlichen Haltung Handkes vor dem Hintergrund des Ex-Jugoslawienkriegs entzündete. "Kann man einen Autor ehren, der öffentlich seine Sympathien für den Serbenführer Milosevic äußerte?", fragte der Theologe angesichts der Tatsache, dass die Preisverleihung "für die Hinterbliebenen der Opfer von Srebrenica verstörend" wirken müsse.

Schattenlinie überspringen mit einem Wort der Klarstellung und Entschuldigung

"Das schwarze Loch des Verstehens bleibt, es kann nicht vertuscht werden", befand Tück. Und er formulierte seine Hoffnung, dass der Schriftsteller dazu bei der Überreichung des Nobelpreises passende Worte finden möge - auch wenn scharfzüngige Kritiker ihm "das Eingeständnis eines Fehlers erschweren" dürften. Aber genau diesen Raum für Klarstellungen gelte es jetzt offenzuhalten, so Tück weiter, denn die Rede zum Nobelpreis sei noch nicht gehalten. "Wenn es Peter Handke gelänge, seinerseits eine Schattenlinie zu überspringen und in Stockholm ein Wort der Klarstellung, ja der Entschuldigung zu sprechen, würde die Kritik verstummen - und mit einer solch rettenden Wendung wäre dann auch die Freude über den Preis ganz ungetrübt."

Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Archivfoto: KH Kronawetter)
Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Archivfoto: KH Kronawetter)

Für den Wiener Dogmatikprofessor sind die Debatten seit der Bekanntgabe der höchstdotierten Literaturauszeichnung ein "Anstoß, vertieft darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis Literatur und Politik bei Handke zueinander stehen". Jene Stimmen des Literaturbetriebes, die die politisch brisanten Äußerungen Handkes "nicht ohne ein Quentchen Schadenfreude ... ins Schaufenster stellen", nennt Tück "verstörend" - "als sei das die Lizenz, sich nicht näher mit dem vielschichtigen und bedeutenden Werk des Dichters zu befassen". Derart agierende Kritiker würden offensichtlich ausschließen, dass sich Handke, "in dessen Poetik 'Wandlung' ein Schlüsselbegriff ist", selbst noch einmal wandeln könnte.

Verwandelnde Kraft der Memoria passionis

Dass dem aus Kärnten stammenden Schriftsteller keine generelle Leidvergessenheit vorzuwerfen ist, veranschaulichte Tück anhand des Handke-Romans "Der Große Fall" (2011). Darin nimmt ein Schauspieler zufällig an einer von einem Arbeiterpriester zelebrierten Messfeier teil und sitzt mit diesem anschließend bei Brot und Wen zusammen. Die Liturgie und die anschließende Begegnung mit dem Priester "verwandeln den Schauspieler", fasste Tück zusammen und berichtete weiter: "Er geht weiter durch die Gassen und sieht sein Bewusstsein plötzlich durchdrungen von einem Hintergrundrauschen der Freude, die anhält und ihn beglückt - und er fragt erstaunt, woher diese Freude kommt." Der Schauspieler werde sich bewusst, dass er sich die Freude schon lange verboten hat, "weil sie das Leid, den Schmerz und die Einsamkeit der anderen verrate". Freude sei durch den Verdacht der Leidunempfindlichkeit erstickt worden.

Die durch die Teilnahme an der Liturgie freigesetzte Freude ist nach der Interpretation Tücks aber eine, die das Leiden der anderen nicht verraten muss, "weil sie durch den Schmerz der Erinnerung hindurchgegangen ist". Der Theologe über diese religiöse Spur im diesbezüglich reichen Werk Peter Handkes: "Selten ist über die verwandelnde Kraft der Memoria passionis (Erinnerung an das Leid, Anm.) eindringlicher geschrieben worden."

Die Erinnerung an die politische Leidensgeschichte sei an Daten und Orte gebunden, so Tück weiter. "Sie würde verstümmelt, wenn die Ermordeten von Srebrenica, die Opfer der serbischen Massaker von 1995 darin keinen Platz hätten." Die Solidarität mit den Verstummten, die für Handkes Werk signifikant sei, "müsste universal entschränkt werden", schloss der Theologe im Blick auf die Preisverleihung am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.


Text: kathpress.at