Organisation

Stabsstelle Bibel und Liturgie

Kommunion des Wohlgeruchs

Eine biblische Betrachtung von Klaus Einspieler

In Rom und Jerusalem hat man schon in der Antike unmittelbar vor Beginn der Karwoche das Evangelium von der Auferweckung des Lazarus gelesen. Darin ist auch von seinen Schwestern Maria und Marta die Rede. Lukas erzählt, Maria hätte sich dem Herrn zu Füßen gesetzt, um seinen Worten zu lauschen (Lk 10,38-42), während Marta ganz davon in Anspruch genommen war, ihm zu dienen. Schenken wir dieser Frau, die meist im Schatten ihrer Geschwister steht, nun unsere ganze Aufmerksamkeit.

Sprachlosigkeit im Angesicht des Todes …

Es ist bemerkenswert, was der Evangelist Johannes von der Beziehung Jesu zu Maria zu berichten weiß. Jesus spricht zu ihr angesichts des Todes ihres Bruders Lazarus kein einziges Wort. Das einzige Bindeglied zwischen der Schilderung des Lukas und des Johannes scheinen die Füße Jesu zu sein. Die Frau, die einst zu Füßen des Herrn gesessen hat, um kein Wort zu überhören, fällt ihm nun angesichts der Trauer um den verstorbenen Bruder zu Füßen. Sonst ist von ihr nur ein Satz überliefert. Darin wiederholt sie die Worte ihrer Schwester Marta: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,32). Während Marta jedoch ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass der Tod nicht das letzte Wort hat und mit Jesus in ein Gespräch kommt, das zu einem eindrucksvollen Glaubensbekenntnis führt, verstummt Maria an dieser Stelle. Wenn es um Leben und Tod geht, stößt unsere Sprache offenbar an ihre Grenzen. Der Ort der Hoffnung – die Füße Jesu – aber bleibt derselbe.

… und trotzdem tiefes Verstehen

Dennoch scheinen Jesu und Maria zu wissen, worauf es ankommt. Dazu bedarf es keiner Worte. Maria bricht nach der Begegnung mit Jesus wohl sofort die Stimme. Ihr Weinen über den Tod des Bruders vermag mehr auszudrücken als eine lange Rede. Es hinterlässt bei Jesus deutliche Spuren. Das erste Mal heißt es im Evangelium, er wäre im Innersten erschüttert gewesen. So empfindet er sonst nur im Blick auf seinen eigenen Tod (Joh 12,27; 13,21). Jetzt aber weint auch Jesus am Grab seines Freundes. Es ist die heftigste emotionale Regung, von der die Evangelisten berichten. Zweifellos beginnt hier ein Gleichklang mit Maria. Gemeinsam blicken sie in den dunklen, tiefen Abgrund in ihrem Innersten, den der Tod aufgerissen hat und finden in ihrem Schmerz zueinander.

Über-fluss

Seit der Auferweckung des Bruders Lazarus sind sechs Tage vergangen. Johannes erzählt:

„Sechs Tage vor dem Paschafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den er von den Toten auferweckt hatte. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl; Marta bediente und Lazarus war unter denen, die mit Jesus bei Tisch waren. Da nahm Maria ein Pfund echtes, kostbares Nardenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihren Haaren. Das Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt.“ (Joh 12,1-3)

Maria salbt Jesus die Füße. Katholische Kirche Saint-Pierre in Dreux im Département Eure-et-Loir (Centre-Val de Loire/Frankreich), Bleiglasfenster mit Signatur: EUG. MOULIN A DREUX. 1880. (Foto: <a  data-cke-saved-href=“https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Dreux_Saint-Pierre_Jesus_287.JPG“ href=“https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Dreux_Saint-Pierre_Jesus_287.JPG“ target=“_blank“>Wikimedia Commons / GFreihalter</a> - <a  data-cke-saved-href=“https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de“ href=“https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de“ target=“_blank“> CC 3.0)</a>
Maria salbt Jesus die Füße. Katholische Kirche Saint-Pierre in Dreux im Département Eure-et-Loir (Centre-Val de Loire/Frankreich), Bleiglasfenster mit Signatur: EUG. MOULIN A DREUX. 1880. (Foto: Wikimedia Commons / GFreihalter - CC 3.0)

Nun ist Jesus im Haus der drei Geschwister zu Gast. Noch eine Woche zuvor hatte er diese Stätte des Todes und der Trauer nicht betreten. Nun ist es zu einem Ort des Lebens geworden. Es wird gegessen und getrunken. Gemeinsam mit Lazarus nimmt man Nahrung auf, freut und vergewissert sich der Gabe des Lebens. Das ist die große Stunde Marias. Sie lässt das Jahresgehalt eines Tagelöhners in Form von kostbarem Nardenöl über Jesu Füße fließen. Offenbar hat sie verstanden. Glaube heißt Hingabe – nicht ein wenig, im Ernstfall von allem. Angesichts der Fülle, die mit Jesus, der sich als die Auferstehung und das Leben offenbart hat (Joh 11,25), gekommen ist, kann Kleinkrämerei nicht angebracht sein. Das wussten schon die großen Gestalten des Alten Testaments: Abel opferte von den Erstlingen, dem Kostbarsten seiner Herde, Abraham legte das Los seines einzigen Sohnes in Gottes Hand etc. Wie groß muss das Vertrauen sein, dass jemand alles auf eine Karte setzt, dass er den Moment erkennt, in dem es darum geht, nicht nur etwas, sondern sich selbst Gott zu übereignen. Es gründet im Vertrauen, dass Gott nicht der Moloch ist, der einem das Liebste raubt, sondern im Moment der Preisgabe seine Fülle offenbart. Das ist wohl das Herzstück biblisch geprägten Glaubens: loslassen, um alles zu gewinnen. Angesichts der Lebensfülle, die mit der Auferweckung ihres Bruders zu fließen begonnen hat, lässt nun auch Maria an ihrem Überfluss teilhaben. Das dritte Mal findet sie sich zu Füßen des Herrn ein. Hier hat sie einst sein Wort in sich aufgenommen und später seinen Trost seinen Beistand gesucht.

Gemeinschaft im Wohlgeruch wahren Lebens

Es ist ein Lehrstück zum Thema Christusliebe, das uns die wortkarge Frau vor Augen führt. Was mag in ihrem Inneren wohl vorgehen? Das Nardenöl gibt uns den entscheidenden Hinweis – im Hohenlied, einer Sammlung von Liebesliedern, liegt die Antwort. Hier spricht die Frau zu ihrem Geliebten:
„Köstlich ist der Duft deiner Salben, dein Name hingegossenes Salböl“ (Hld 1,3) und: „Bis dorthin, wo der König an seiner Tafel liegt, gibt meine Narde ihren Duft“ (Hld 1,12).
Er aber antwortet:
„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel süßer ist deine Liebe als Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte“ (Hld 4,10).
Wer das Evangelium liest, soll es offenbar im Licht dieser sinnlichen alttestamentlichen Lieder tun. Es ist eine Kommunion des Wohlgeruchs, die der Schreiber mit wenigen Worten entfaltet. Es lohnt sich, diesem Gedanken noch ein wenig nachzuspüren. Während die Kommunion des Lazarus und der Marta im Blick auf Jesus auf das gemeinsame Mahl beschränkt bleibt, lässt die Aussage, Maria hätte die Füße Jesu mit ihren Haaren getrocknet, etwas anderes erahnen. Im Haus des Lazarus riecht es nicht mehr nach Tod. Es ist zu einem Ort des Lebens geworden. Das Haus ist vom Duft des Öls erfüllt, es riecht nach ewigem Leben, weil Jesus, die Auferstehung und das Leben, hier zu Gast ist. Maria führt uns nun vor Augen, was es heißt, an diesen Christus zu glauben.

Vordergründig macht es keinen Sinn, die gesalbten Füße zu trocknen. Die Sünderin im Lukasevangelium macht das gerade nicht – sie benetzt die Füße mit Tränen, trocknet sie mit den Haaren und salbt sie dann (Lk 7,38). Maria aber reibt ihre Haare am Salböl, das die Füße Jesu bedeckt. Sie nimmt seine Duftnote auf. Von nun an riecht sie nicht mehr nach Fleisch, im Johannesevangelium ein Bild für die menschliche Vergänglichkeit, die in diesem Haus vor wenigen Tagen so schmerzlich erfahrbar geworden ist, sondern nach Christus, nach ewigem Leben. Das geschieht bei der Taufe. Der Täufling wird mit Chrisam gesalbt, er duftet nach Christus, dem Gesalbten schlechthin und ist in Verbindung mit ihm berufen, als Priester, König und Prophet zu leben. Paulus drückt das so aus: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Maria ist mit Jesus eins geworden, wie der Sohn eins mit dem Vater ist. Ihre Identität wurde jedoch nicht aufgelöst, sondern verwandelt. Von nun an ist ihre Existenz nicht mehr ein „Sein zum Tode“ (Heidegger), sondern Leben mit und in Christus.

Christsein heißt also – im Bild gesprochen – sich an Christus zu reiben, um den Wohlgeruch ewigen Lebens anzunehmen. Die großen Mystiker, die aus dem Hohenlied geschöpft haben, geben ein eindrucksvolles Zeugnis, wie tief diese Erfahrung der Liebe Christi dringen kann. Eine Kommunion ohne Brot und doch beseelt von einem tiefen Empfinden der Zugehörigkeit, Dankbarkeit und inneren Friedens. Eine Kommunion, die keiner Worte mehr bedarf, weil sie geprägt ist von gegenseitiger Annahme und Verstehen. Offenbar gibt es viele Wege, mit Gott Kommunion – Gemeinschaft – zu pflegen. Glücklich, wer dies erfahren darf!