Was ist Gerechtigkeit?
Bei einem Symposion an der Klagenfurter Universität wurde über Gerechtigkeit in Zeiten der Wirtschaftkrise nachgedacht
Eine Reportage von Karl-Heinz Kronawetter
Jedem das Seine, lautet eine alte Definition für Gerechtigkeit. Aber was ist, wenn nicht alle das Ihnen Zustehende erhalten, weil die Ressourcen knapp werden oder weil sie sehr ungleich verteilt sind. Es ist nämlich offensichtlich, dass die Schere zwischen Armen und Reichen auch in den europäischen Ländern immer weiter auseinander geht.
Schon Platon sprach vor zweieinhalb Jahrtausenden von der Tugend der Gerechtigkeit, die im Stand sei, wie ein kluger Wagenlenker die menschlichen Triebe und Gefühle so zu führen und zu steuern, dass sowohl der Einzelmensch als auch das Gemeinwesen dadurch Gutes erfahren. Am 19. und 20. Juni 2013 trafen sich an der Klagenfurter Alpen-Adria-Universität auf Einladung von Professor Reinhard Neck, dem Präsidenten der Klagenfurter Karl-Popper-Foundation, Wirtschaftswissenschafter, Soziologen, Philosophen und ein Theologe, um im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposions Aspekte der Gerechtigkeitsfrage zu diskutieren.
Den Eröffnungsvortrag hielt der renommierte Tübinger Philosoph Otfried Höffe, der eine Horizontabschreitung vornahm, um die Konturen eines globalisierungsfähigen Begriffes von Gerechtigkeit zu zeichnen. Er stellte dabei vor Augen, dass Gerechtigkeit ein Leitziel der Menschheit sei, das die verschiedenen Kulturen und Epochen eine. Und trotz des hochumstrittenen Gehaltes sehnt sich die Menschheit nach einer Welt, in der Gerechtigkeit herrsche, und allzeit fordere sie diese dann auch ein, sagte Höffe. Gerechtigkeitsvorstellungen sind nicht nur in sog. westlichen Gesellschaften entwickelt worden, der Gerechtigkeitsdiskurs muss in einer globalisierten Welt interkulturell und interreligiös geführt werden. Während die gegenwärtige politsche Debatte im Namen der sozialen Gerechtigkeit oft ausufernde Forderungen stellt, ist laut Höffe zuerst einmal von einem bescheidenen Gerechtigkeitsbegriff auszugehen, der eine Eigenschaft von Personen beschreibt, die sich an Recht und Gesetz halten. Diese personale Gerechtigkeit zählte nicht nur im jüdisch-christlich-römisch geprägten Abendland, sondern auch in altägyptischen Weisheitstexten zu den Vorzügen eines vortrefflichen Menschen, stellte der Philosoph beispielhaft dar.
Personale Gerechtigkeit und Justizgerechtigkeit
Diese personale Gerechtigkeit wird ergänzt durch die erste Form politischer Gerechtigkeit, nämlich durch die Justizgerechtigkeit. Jemanden Gerechtigkeit widerfahren lassen heißt, ihm (vor Gericht) zu seinem Recht verhelfen. Schon der altbabylonische „König der Gerechtigkeit“, Hammurapi, verspricht dies den Schwachen, Witwen und Waisen. Die hier erwähnten zwei Grundformen der Gerechtigkeit müssen zusammenkommen, um Auswüchse von Privat-Justiz zu verhindern. Die politische Gerechtigkeit hat für ein funktionierendes Gerichtswesen zu sorgen, und die personale Gerechtigkeit für unparteiische Urteile der Richter.
Interkultureller Gerechtigkeitskonsens
Im Unterschied zum angeblichen Kampf der Kulturen (S. Huntington) sieht Otfried Höffe in der gesamten Menschheit eine Gerechtigkeitsgemeinschaft. Gleichheit und Unparteilichkeit bilden den Kern dieses interkulturellen Gerechtigkeitskonsenses. Und er zitierte Papst Hadrian VI., der von der Gefahr sprach, die Großen und Mächtigen davon auszunehmen: „Es herrsche Gerechtigkeit, selbst wenn die Welt darüber zugrunde gehe“ - „Fiat iustitia, pereat mundus“. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, sind der Strafgerechtigkeit auch „die großen und kleinen Diktatoren und deren zahllose Schergen auszusetzen“, betonte Höffe, der im neueren Weltstrafgericht einen wichtigen Baustein zur globalen Strafgerechtigkeit sieht. Völkermord darf nicht an einigen Orten streng geahndet, an anderen wiederum nur achselzuckend hingenommen werden. Der Tübinger Philosoph sprach in diesem Zusammenhang von anamnetischer Gerechtigkeit, die sich aber nicht auf eine unparteiliche Erinnerung an die großen Untaten beschränken lässt, sondern auch die vielen Glanzleistungen der Menschheit in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und auch in der Welt von Mitleid und Wohltätigkeit im Gedächtnis behält.
Gerechtigkeitssensibiliät in modernen Gesellschaften
„Freiwilliges Engagement bedarf erfahrene Gerechtigkeit“, stellte Stefan Liebig, Professor an der Universität Bielefeld, in seinem Vortrag fest und formulierte dann mit aller wissenschaftlichen Vorsicht die These, dass die Gerechtigkeitssensibiliät in modernen Gesellschaften zunehme. Obwohl die empirische Bestätigung dafür noch ausstehe, lassen sich ermutigende Anzeichen von Solidarität und Gemeinwohldenken in den europäischen Gesellschaften erkennen.
Der Grazer Rechtsphilosoph Peter Koller gab in diesem Zusammenhang jedoch zu bedenken, dass zwar die Sensibilität für Gerechtigkeitsfragen steigen möge, es aber aufgrund der pluralen moralischen Vorstellungen innerhalb der Weltgesellschaft ganz unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit gäbe, die (leider) nicht auf einen grünen Zweig zu bringen seien. Koller, dessen politisches Herz „links“ schlage, wie er nebenbei anmerkte, beendete seine Ausführungen zum Thema mit einer Liste von Vorschlägen für eine gerechtigkeitsorientierte Politik, die nicht durch die etablierten Parteien, sondern vielmehr durch Druck von unten, d.h. durch eine neue soziale Bewegung, die sich aus benachteiligten Gruppen und moralischen Idealisten rekrutiere, Gestalt gewinnen wird.
Gerecht verteilte Steuerlast
Der Linzer Steuerrechtsexperte Johann Brunner sprach sich für eine gerechtere Verteilung der Steuerlast aus. Speziell im österreichischen System ist eine Umverteilung in Richtung vermögensbezogene Steuern notwendig. So sei die Erhöhung der „absolut niedrigen“ Grundsteuer ein Gebot der Stunde.
Gerechtigkeit und Staatsschuldenkrise
Der katholische Sozialethiker an der Universität Bochum, Professor Joachim Wiemeyer, hielt den Abschlussvortrag des Symposions. Es sprach über Gerechtigkeitsprobleme in der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise und brachte dabei auch die Perspektive der christlichen Soziallehre in den Diskurs mit ein. Dabei gilt es, neben der Gesetzes- und der Vertragsgerechtigkeit besonders auch auf die Verteilungsgerechtigkeit ungleich verteilter Güter zu achten. Mit einer gewissen Skepsis gegenüber einem überzeichneten Marktoptimismus der (neo)liberalen Wissenschafts- und Politiksysteme unterzog der Theologe Wiemeyer die gegenwärtige europäische Schuldenkrise einer Analyse, um dann folgende Lösungsansätze zu präsentieren. So müssen, um den sozialen Zusammenhalt in vielen EU-Staaten zu bewahren, die europäischen Strukturfonds weiter geführt werden. Weitere Desiderate sind die Harmonisierung der europäischen Steuersysteme und die Begrenzung der Staatsverschuldung durch einen großen Fiskalpakt. Wiemeyer skizzierte Bedingungen für Chancengerechtigkeit, für Bedarfsgerechtigkeit (Existenzminimum) für Finanzierungsgerechtigkeit und für eine die Generationen verbindende Zukunftsgerechtigkeit.
Interessante Zusammenhänge zeigt eine an der Universität Würzburg durchgeführte und von Wiemeyer präsentierte Studie zum Demokratie-Ranking der europäischen Staaten. Hier zeigte sich ein auffälliger Zusammenhang zwischen der Höhe des sog. Korruptionsgrades einer Gesellschaft und deren wirtschaftlichen Schwächen. So rangieren Spanien, Italien und Griechenland nur im unteren Drittel. Dieser Befund gab Anstoß für heftige Diskussion am Ende eines „sehr heißen“ Wissenschaftstages.