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Halt geben

Theologische Fragmente in Zeiten von Krisen 4/3

Halt geben (pixabay_rock-climbing)
Halt geben (pixabay_rock-climbing)

Pandemie, Ukraine-Krieg, Überflutungen, Waldbrände, Teuerung, Hunger-, Flüchtlings- und Energiekrise wechseln sich ab und überlagern einander. Was gibt Halt in diesen schwierigen Zeiten? Und wie können wir einander Halt geben? Diesen Fragen geht der Theologe Michael Kapeller in einer Kurzserie von vier „Theologischen Fragmenten in Zeiten von Krisen“ nach.
Den dritten Beitrag „Halt geben“ lesen Sie hier:

Der blinde Seher

Dieser Rat ist selbst für einen Helden eine Zumutung. Noch nie ist ein Sterblicher von dieser Reise zurückgekehrt. Odysseus aber geht das Wagnis ein. Zu groß ist seine Sehnsucht, die Irrfahrt glücklich zu beenden und die Heimat wiederzuerlangen. So macht er sich auf den Weg zu den Toren des Hades. Dort, so der Rat der Zauberin Zirze, werde er den blinden Seher Teiserias finden und von ihm den entscheidenden Hinweis erhalten. Der Gesuchte erscheint. Obwohl er selbst nicht sehen kann, sieht er doch weiter und tiefer als alle vor und nach ihm. Teiserias weist Odysseus den Weg und benennt die Gefahren, die auf Odysseus lauern. Selbst den Ausgang der Reise kündigt der blinde Seher an:

„Nach vielen Mühen, allein und unbekannt wirst du auf fremdem Schiff heimkehren und nur Elend in deinem Hause vorfinden.“

Mit dieser Aussicht, dass sein Unterfangen – anders als von ihm erhofft – doch glücken kann, verlässt Odysseus diesen schaurigen Ort. Der blinde Seher aber kehrt in das Totenreich zurück.

Ein göttlicher Begleiter

In äußerster Not schickt der erblindete Tobit seinen einzigen Sohn Tobias zu seinem Verwandten Gabaël nach Rages in Medien. Von Gabaël wird der Junge das Geld erhalten, das Tobit vor zwanzig Jahren dort hinterlegt hat. Diese Summe soll ihnen das Überleben sichern. Die Reise ist lang und gefährlich, doch alternativlos. Tobias macht sich auf die Suche nach einem Begleiter. In Asarja wird er fündig. Asarja erwirbt das Vertrauen des Tobit, kündigt dessen Heilung an und verbürgt sich für eine glückliche Rückkehr:

„Wohlbehalten werden wir fortgehen und wohlbehalten zu dir zurückkehren, denn der Weg ist sicher.“ (Tob 5,17).

Das Angekündigte tritt ein, ja mehr noch: In Ekbatana kehren sie bei Raguël ein. Tobias verliebt sich in dessen Tochter Sara, die er von einem bösen Geist befreit. Asarja reist in der Zwischenzeit nach Rages und erhält das Geld von Gabaël zurück. Wohlbehalten bringt Asarja schließlich Tobias und Sara heim zu Tobit, der zudem sein Augenlicht wiedererlangt.

Halt geben

Unterschiedlicher könnten diese beiden Seher und Zukunftsdeuter kaum sein. Teiserias eröffnet dem Odysseus die Zukunft, von seinem Schicksal bleibt er jedoch weitgehend unberührt. Anders Asarja. Er ist der Wegweiser, der mitgeht, der Tobias begleitet und sich aktiv für das Gelingen der Reise einsetzt. Darin erweist sich dieser Begleiter als göttlicher Engel Rafaël. Im Christentum macht diese Form der Begleitung Schule. Dabei darf der Begleiter bzw. die Begleiterin den Halt- und Ratsuchenden jedoch nicht beeinflussen oder gar von sich abhängig machen. Begleitung stärkt vielmehr das Zutrauen in das eigene Vermögen. Halt geben richtet auf, ermutigt und zeigt Perspektiven auf, ohne sich dabei selbst in den Vordergrund zu spielen. Deutlich fordert dies Ignatius von Loyola ein. Besonders bei Entscheidungen sollen Begleiterinnen und Begleiter „sich weder zu der einen noch zu der anderen Seite hinwenden und hinneigen.“ Denn die Wegweisung erfährt die ratsuchende Person nicht vom Begleiter bzw. der Begleiterin, sondern von Gott selbst. Wenn wir anderen Halt geben, bedeutet dies:

„In der Mitte stehend wie eine Waage lässt er (bzw. sie) unmittelbar den Schöpfer mit seinem Geschöpf und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn wirken.“ (Ignatius von Loyola)