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Halt finden

Theologische Fragmente in Zeiten von Krisen 4/2

Halt finden (marcel kessler_pixabay_pfarrbriefservice.de)
Halt finden (marcel kessler_pixabay_pfarrbriefservice.de)

Pandemie, Ukraine-Krieg, Überflutungen, Waldbrände, Teuerung, Hunger-, Flüchtlings- und Energiekrise wechseln sich ab und überlagern einander. Was gibt Halt in diesen schwierigen Zeiten? Und wie können wir einander Halt geben? Diesen Fragen geht der Theologe Michael Kapeller in einer Kurzserie von vier „Theologischen Fragmenten in Zeiten von Krisen“ nach.
Den zweiten Beitrag „Halt finden“ lesen Sie hier:

Ein Herz und eine Seele

Sie waren füreinander bestimmt, ein Herz und eine Seele, Liebe auf dem ersten Blick. Doch damit endet diese Geschichte nicht. Orpheus, der große Sänger, lässt seine Eurydike zurück, um für sie kostbares Tuch zu erwerben. Eurydike wiederum nutzt die Zeit, um für ihren Orpheus Blumen zu pflücken. Die Idylle trügt. Aristaios bedrängt Eurydike, diese jedoch flieht, achtet nicht auf den Weg und wird von einer Schlange gebissen. Der Biss ist tödlich. Als Orpheus heimkehrt, zerreißt es ihm förmlich das Herz. Er unternimmt alles, um seine Eurydike zurückzugewinnen. Und es gelingt. Mit seinem betörenden Gesang verschafft er sich Zugang zur Unterwelt. Hades erlaubt das Unmögliche: Orpheus darf Eurydike aus den Fängen des Todes lösen und ihr vorangehen ins Reich der Lebenden. Nur umdrehen darf er sich dabei nicht. Die Ungewissheit aber ist zu groß. Voll Sorge wendet sich Orpheus um und Eurydike sinkt zurück ins Reich der Todesschatten.

Lots Flucht und seine Folgen

Auch die Bibel berichtet von den Folgen eines verbotenen Sich-Zurückwendens. Aber der Reihe nach. Alles beginnt damit, dass sich Abraham und Lot trennen, da ihr Besitz zu groß geworden ist und es vermehrt zu Spannungen zwischen ihren Hirten kommt. Abraham aber sucht den Frieden. So bietet er Lot an zu entscheiden, ob er sich bei den Städten Sodom und Gomorra oder in Kanaan niederlassen möchte. Lot wählt die fruchtbare Jordangegend und schlägt seine Zelte vor den Stadttoren von Sodom auf. Das war eine offenkundige Fehlentscheidung, denn, so lesen wir in der Bibel, „die Männer von Sodom waren sehr böse und sündigten vor dem HERRN.“ (Gen 13,13) Jegliche Mühe ist vergebens. Die Einwohner von Sodom und Gomorra schaufeln sich ihr eigenes Grab. Zwei Engel eilen zu Lot und fordern ihn auf, rasch die Stadt zu verlassen.

„Rette dich, es geht um dein Leben! Sieh dich nicht um und bleib im ganzen Umkreis nicht stehen!“ (Gen 19,17).

Lot tut wie ihm geheißen. Noch in derselben Nacht verlässt er mit seiner Familie den Ort des Verderbens. Bereits bei Sonnenaufgang regnet es auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer. Lot ist gerettet. Seine Frau jedoch vermag sich nicht an die Vorgabe des Engels zu halten. Sie blickt zurück und erstarrt augenblicklich zur Salzsäule.

Halt finden

Warum aber wird sowohl dem Orpheus als auch der Frau des Lots der Blick zurück zum Verhängnis? Sind es nicht konkrete Ereignisse der Vergangenheit, bewährte Traditionen und persönliche Verwurzelungen in der Familie, die Halt geben, Orientierung schenken und den Weg in die Zukunft finden lassen? Ein Blick auf Christus kann eine neue Perspektive eröffnen. Denn, so bekennen wir im Credo und können es in der Osterikone der Ostkirche betrachten, steigt er nach seinem Tod in das Reich des Todes, um alle Heiligen und Gerechten ins ewige Leben zu führen. Bereits Klemens von Alexandrien hat in Christus einen neuen Orpheus erkannt. Einen Orpheus, der den Orpheus des Mythos in allem übertrifft. Entscheidend aber ist: Christus wendet sich nicht um, er wendet sich den Menschen zu. Sie gehen nicht hinter ihm her, sondern er nimmt sie förmlich an der Hand. Er, der selbst den Tod erlitten hat und die Wundmale an sich trägt, hält nicht Vergangenes fest, an ihn und durch ihn erfolgt Wandlung. So hebt Klemens hervor:

„Durch den Gesang des neuen Orpheus werden Menschen wieder lebendig, sobald sie nur Hörer des Gesangs geworden waren.“

Wer selbst Hörer oder Hörerin geworden ist, wendet sich nicht zurück, sondern öffnet sich diesem neuen Klang und möchte ihm folgen. So findet er bzw. sie Halt im Weitergehen, im Vertrauen, dass diese Melodie trägt und (neues) Leben schenkt.