Sonntagspredigt
Palmsonntag
Liebe Palmsonntagsgemeinde!
Manchmal wache ich auf, höre die Vögel zwitschern wie immer, die Sonne geht auf, die Natur beginnt zu blühen, die Glocken läuten und ich denke mir einen Augenblick lang: vielleicht war alles nur ein böser Traum. Der Virus, die Krankheiten, die Einschränkungen: nur dunkle Ahnungen, die im Morgenlicht aufgeschreckt davonfliegen. Aber schon ist sie wieder da, die irritierende Realität.
Gerne wäre ich heute wieder auf unserem Kirchplatz gestanden und hätte in das bunte Menschengewimmel geschaut, wir hätten uns miteinander gefreut über die Gemeinschaft, über die Kinder mit ihren geschmückten Palmbesen. Nun aber sind wir bis aufs Äußerste reduziert und können nur im Geiste miteinander verbunden sein.
Verbunden sind wir auch über die Zeit hinweg und zurück mit den Einwohnern Jerusalems, die damals den Einzug eines seltsamen Wanderpredigers beobachten, der von seinen Freunden wie ein König gefeiert wird, obwohl er so gar nicht danach aussieht in seiner bescheidenen Kleidung. Noch dazu, wie er daher kommt: nicht am stolzen Kriegsross an der Spitze einer schwer bewaffneten Soldatenmannschaft, sondern auf einem Esel, dem geduldigen Grautier, dem Reit- und Lasttier der Armen.
Da wäre der Esel wohl störrisch stehen geblieben, hätte er gewusst, dass er diesmal nicht das ungeborene Kind nach Bethlehem trägt, oder den Säugling mit seinen Eltern auf der Flucht nach Ägypten begleitet, sondern ihn dem Leiden und Sterben entgegenbringt.
Dem jubelnden Einzug in Jerusalem folgt im Leben Jesu die schrittweise Ablehnung, bis hin zu Leiden und Tod. Die Lage wird dramatisch und spitzt sich zu.
Auch wir hier in der Kirche spüren das: nach dem festlichen Einzug mit unseren schönen Palmzweigen beginnt die Leidensgeschichte.
Ist es nicht immer im Leben so, dass jede Leidensgeschichte mit einem mehr oder weniger langen Palmsonntag beginnt?
Dazu genügt schon ein Blick in die Geschichte: denken wir nur an den Beginn des ersten Weltkrieges vor gut 100 Jahren, jene Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: für viele Menschen war das ein Palmsonntag, ein Anlass zum Jubel und zur Begeisterung. Doch bald sind ihnen die Augen aufgegangen: es folgt der Karfreitag des ersten und dann des zweiten Weltkrieges, Unterdrückung, Verfolgung, Unrecht und Gewalt.
Und auch in der Kirche: eben noch angesehen, beachtet, gehört und gebraucht, und dann kommen die Skandale, die Schattenseiten, die wirklichen und auch die vermuteten Schandtaten. Und all das Gute, das geschehen ist und das täglich stattfindet, ist vergessen.
Noch schwimmen wir oben auf, auf der Papst Franziskus Welle, bis wieder ein Bischof, ein Pfarrer oder auch nur die Caritas Anlass zur Kritik gibt.
Doch auch im eigenen Leben ist es ähnlich:
Eben noch bist du gesund und kräftig, und dann kommt die schlimme Diagnose. Eben noch ist deine Beziehung, deine Ehe, deine Freundschaft in Ordnung und schon kommt die Krise. Eben noch bist du ein Held und dann schaut dich keiner mehr an.
Auch jetzt ist es so: wie selbstverständlich haben wir all die Angebote und Sonderangebote des alltäglichen und religiösen Lebens genossen und jetzt sitzt uns die Angst im Nacken.
Nur erkennt man die Palmsonntage im Leben nicht so einfach: das Gute ist uns selbstverständlich, die Anerkennung, Liebe, Freundschaft, Entgegenkommen und Gesundheit: alles ist ganz normal. Erst wenn man das alles nicht mehr hat, erkennt man, wie wertvoll es ist.
So öffnet uns der Palmsonntag zuerst einmal die Augen für das Wertvolle und für die Höhepunkte des Lebens, die wir dankbar und bewusst anschauen dürfen. Aber dann müssen wir auch damit rechnen, dass irdisches Glück sehr zerbrechlich ist.
Ich meine, dass Jesus da ein Realist gewesen ist: er wird schon gewusst haben, was da im Menschen alles ganz nahe beieinander wohnt: die Begeisterung, die großen Erwartungen, die Sehnsucht, die Hoffnungen. Aber dann auch die Ablehnung, die Enttäuschung, die Ungeduld und der Hass. Gerade die oft ganz schrecklichen anonymen Kommentare im Internet öffnen uns die Augen für die Abgründe der menschlichen Seele.
Jesus hat diesen Fanclub des Palmsonntags sicher durchschaut. Er sieht die Opportunisten, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, er sieht die, die in ihm den Brotkönig sehen und ein kommendes Schlaraffenland herbeisehnen, er sieht die, die um ihre Macht fürchten, die ihn ablehnen, und er sieht auch die mit dem echten Glauben und der starken Hoffnung. Er sieht voraus, was kommen wird, wenn er all diesen Ansprüchen nicht genügt. Schnell ist man vergessen, schnell schlagen die Gefühle um.
Deshalb steht auch nicht geschrieben, dass sich Jesus über den Applaus erfreut gezeigt hat, dass er sich dankbar verbeugt hat wie ein Opernsänger nach vollbrachter Aufführung, dass ihm die Tränen der Rührung gekommen wären, dass er Autogramme ausgeteilt oder dass er das Bad in der Menge genossen hätte. Nichts von all dem.
Hinter dem Jubel sieht er das Kreuz. Aber er ist trotzdem nicht verbittert, er hält seine Sendung durch, er lässt uns zwiespältige Menschen nicht los. Das ist das Großartige, das wir in jeder Karwoche Schritt für Schritt erfahren, je mehr wir in sie hineingehen bis hin zum Karfreitag. Gott steht unbeirrbar zu diesen Menschen, steht zu dir und mir, und lässt sich nicht abbringen von seiner unbegreiflichen Zuneigung.
Hoffentlich merken und spüren wir in diesen Tagen wieder neu diese trotzige Nähe unseres Gottes: er liebt uns nicht nur so, wie wir sind, sondern er liebt uns, obwohl wir so sind, wie wir sind. Davon dürfen wir lernen und wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen von Enttäuschungen und Ablehnung, lassen uns nicht die Hoffnung nehmen und den Mut, wenn auch in unserem Leben auf den Palmsonntag oft ein Karfreitag folgt. Die grünen Zweige, die wir in unseren Palmstrauß hineingesteckt haben, sind ein sichtbares Zeichen dieser Hoffnung. Und auch die Palmkätzchen selbst, die mitten im kalten Winter schon zu den ersten Frühlingsboten gehören und trotzig mit ihren pelzigen Köpfchen gegen die eisige Ablehnung protestieren. Sie weisen uns hin auf die Trotzkraft des Glaubens und des Gottvertrauens, das sich nicht einschüchtern lässt.
Schließlich ist die große Richtung, auf die alles hingeht und hinzielt, ja doch der Ostersonntag und das Leben. Aber das wissen wir erst im Rückblick, wir wissen, wie alles ausgeht. Dennoch aber dürfen wir die Karwoche mit all ihrer Dramatik nicht überspringen. Nur so können wir auch die Dunkelheiten des Lebens aushalten. Und nur so wird das Osterfest zum Fest der Erlösung, zum guten Ausblick und zum Licht im Tunnel des Lebens.