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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Walter Fanta im Gespräch mit Gerald Heschl: Zeitgeschichte ist das Mosaik aus vielen Lebensgeschichten

Der Gründer des Vereins „Lebensgeschichten und Alltagssachen“ ist überzeugt, dass jedes Leben erzählt und der Nachwelt erhalten werden sollte.

Mit Ihrem Verein „Lebensgeschichten und Alltagssachen“ heben Sie Erinnerungen von Menschen an vergangene Zeiten. Wie kamen Sie auf die Idee dieser Form der erzählten Geschichte?

Fanta: Ich bin auch Historiker. Für mich besteht die Zeitgeschichte nicht aus den Taten großer Männer, sondern ist in Wirklichkeit ein Mosaik aus den Lebensgeschichten einzelner Frauen und Männer.

Wie kommen Sie zu den Geschichten?

Fanta: Begonnen habe ich mit Workshops an der Universität. 2020 habe ich dann den Verein mit dem Namen „Lebensgeschichten und Alltagssachen“ gegründet. Ziel ist es, Menschen bei der Dokumentation ihrer Lebensgeschichte in künstlerischer und wissenschaftlicher Form zu unterstützen. Eine große Rolle spielt dabei der Aspekt, dass die Zeitzeuginnen und -zeugen selbst ihr Leben dokumentieren und wir nur helfen.

Sie haben dieses Konzept auch für das 100-Jahr-Jubiläum der Caritas angewandt und aktuelle bzw. ehemalige Caritas-Mitarbeiter befragt. Wie waren Ihre Erfahrungen dabei?

Fanta: Das Interessante dabei war, dass es nicht nur um eine historische Darstellung ging. Diese Arbeit hat auch mit Psychologie zu tun, sogar mit Therapie und Sozialarbeit. Da fallen viele verschiedene Dinge zusammen. Das Besondere bei den Caritas-Mitarbeitern ist, dass diese damit ihr Leben lang konfrontiert sind. Egal, ob es ein Pfarrer ist, der im Rahmen der Pfarrcaritas mitarbeitet, oder jemand aus der Obdachlosenarbeit oder der Auslandshilfe.

Ich nehme an, da gab es viele berührende Geschichten ...

Fanta: Die berührendsten Aspekte sind die Berufungserlebnisse. Jeder, mit dem wir sprachen, hatte so eine Art Damaskuserlebnis, das zu dem Entschluss führte, bei der Caritas mitzuarbeiten. Dabei haben wir Menschen mit vollkommen unterschiedlichen Hintergründen interviewt: aus der Technik, aus der Wirtschaft, Leute, die Unternehmer waren, oder Hausfrauen, die ihr Berufungserlebnis hatten, als die Kinder aus dem Haus waren. Jeder von ihnen fühlte sich erwählt.

Worin lagen die Auslöser für dieses Berufungserlebnis?

Fanta: Zwei Dinge sind immer wiedergekehrt: einmal die Persönlichkeit des ehemaligen Caritas-Direktors Dr. Viktor Omelko. Er war für diese Leute in gewissem Sinne eine Art Hebamme. Er hat ihnen geholfen, herauszufinden, was sie selbst eigentlich machen wollen und hat dies ermöglicht. Das trifft auf alle 30 Personen zu, mit denen wir diese Gespräche geführt haben. Das Zweite sind die Lebensumstände, unter denen die Menschen waren, bevor sie zur Caritas gekommen sind.

Was heißt das konkret?

Fanta: Die Berufung stand eigentlich immer im Zusammenhang mit dem eigenen Leben. Es war nicht die Konfrontation mit Elend oder Not. Selbst bei jüngeren Leuten war es so, dass sie in ihrer Entscheidung für die Caritas mit ihren bisherigen Lebenskonzepten gebrochen haben. Ein konkretes Beispiel ist die Familie Wieser, die in Feistritz/Drau einen Installationsbetrieb führte. Innerhalb kürzester Zeit sind der Vater und der Sohn des Ehepaares Wieser verstorben. Daraufhin haben sie die Firma geschlossen und ihre Expertise in den Dienst der Caritas gestellt.

Warum ist es wichtig, solche Dinge zu erzählen?

Fanta: Ich halte es für wichtig, dass jede und jeder sein Leben dokumentieren sollte. Ich persönlich sehe das unter dem Stichwort „Ewiges Leben“. Wenn wir über unser Leben erzählen, dann ist das auch eine Chance, das eigene Leben zu reflektieren und sich selbst zu erkennen. Damit kann viel Unbewältigtes verarbeitet werden. Es war bei dem Projekt generell zu beobachten, dass die Menschen eine bestimmte Botschaft haben, die sie mitteilen wollten.

Sozusagen ein Vermächtnis?

Fanta: Ich frage mich, was das Jenseits eigentlich ist. Das, was unsere Seele ist, was unzerstörbar ist, ist das dokumentierte Gedächtnis. Es ist das, was von uns in der Erinnerung anderer übrigbleibt. Das war früher auch eine Aufgabe der Kirche. Denken Sie an die mittelalterlichen Klöster, die alles, was an Schriftlichem aufzufinden war, abgeschrieben, vervielfältigt und damit dem Gedächtnis der Menschheit erhalten haben. Eine Klosterbibliothek war im Grunde so etwas wie heute das Internet. Jeder einzelne erforscht sich selbst und fragt sich: Was soll nach meinem Tod für die Ewigkeit bleiben? Auf den Punkt gebracht, muss man sagen: Jeder Mensch hat seine Heldentat, die es wert ist, aufgezeichnet zu werden.

Ist das die Motivation, sein Leben zu erzählen?

Fanta: Es ist ja gar nicht so einfach, jemandem sein Leben oder auch nur Teile davon zu erzählen. Aber ich meine: Jedes Leben ist es wert, erzählt zu werden. Aber viele erkennen das nicht oder sie brauchen erst einen gewissen Anstoß dazu. Das können etwa die Enkel sein, die ihre Großeltern fragen, wie es damals eigentlich gewesen ist. Es geht auch darum, die Zeit zu verstehen. Denken Sie an die enormen Veränderungen der vergangenen paar Jahrzehnte. Seit der Nachkriegszeit hat sich die Welt so rasch gewandelt wie nie zuvor. Wie die Menschen in Kärnten dies erlebt haben, das interessiert uns. Dazu möchten wir gerne Treffen einführen – das könnte zum Beispiel in Pfarren stattfinden. Es reicht, wenn zunächst eine Person mitmacht.

Wenn das jemand machen will, wo soll er sich melden?

Fanta: Am einfachsten direkt bei mir. Ich bin telefonisch erreichbar unter: 0699/19700329 und per Mail unter: walter.fanta@aau.at. Die Homepage des Vereines ist zu finden unter:

www.lebenundalltag.org

Zur Person:

Priv.-Doz. Dr. Walter Fanta, geb. 1958 in Spittal/Drau. Studium der Deutschen Philologie und Geschichte an den Universitäten Klagenfurt, Wien, Innsbruck; Promotion zum Dr. phil. mit einer Dissertation zu Entstehung und Ende des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil (1999). Lehrtätigkeit an den Universitäten Klagenfurt, Udine, Debrecen, Miskolc, Szeged (Ungarn), Oradea (Rumänien) und Wien in den Bereichen österreichische Literatur und Landeskunde und Computerphilologie. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert-Musil-Institut Klagenfurt. 2020 gründete er den Verein „Lebensgescichten und Alltagssachen“, mit dem er die Zeitgeschichte Kärntens in Form von Lebensgeschichten festhält.