Wie sozial ist Europa?
Im SONNTAG-Gespräch fordert der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister ein Bekenntnis zum Sozialmodell.
Europa steckt in der Sackgasse fest. Der Sparkurs hat den Kontinent in die Sackgasse geführt, meint Stephan Schulmeister. Der Wirtschaftsforscher plädiert für ein europäisches Sozialmodell, das den Menschen wieder ins Zentrum rückt.


In Griechenland hat Syriza die Wahlen beeindruckend gewonnen. Welches Signal ist dieser Wahlsieg für ganz Europa?
Schulmeister: Für jene, die zunehmend kritisch gegenüber der Politik des Sparens und des Sozialabbaus eingestellt sind – das sind ganz normale Bürgerinnen und Bürger bis hinauf zu Regierungschefs wie dem Italiener Renzi –, ist es ein Signal einer möglichen Wende. Das sollte kein radikaler Schnitt sein. Es genügt, wenn der Zweifel an der bisherigen Politik in anderen Ländern verstärkt wird.
Viele Regierungschefs, aber auch Wirtschafter warnen jedoch vor Syriza.
Schulmeister: Jene, die den bisherigen Kurs für richtig halten, begreifen den Wahlerfolg als Herausforderung, ja sogar Provokation. Da gibt es Trotzreaktionen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen jenen, die hoffen, und den anderen werden sich nun die Verhandlungen Griechenlands mit der EU entwickeln müssen. Da ist es eine Frage des Geschicks und der Klugheit des griechischen Regierungschefs Tsipras, in kleinen Schritten zu Verbesserungen zu kommen.
In Griechenland erwartet man sich wohl eher große Schritte. Was sollte er Ihrer Meinung nach tun?
Schulmeister: Seine größte Stärke wäre, wenn er ganz klar das Ausmaß der Verarmung dokumentiert. Wenn 40 % der Menschen keine Krankenversorgung mehr haben, ist das eigentlich eine Schande für das europäische Sozialmodell. Damit kann er Menschen ansprechen, die etwa aus den Kirchen kommen, denen die christliche Soziallehre wichtig ist.
Bisher wurden Milliarden nach Griechenland gepumpt. Dies hat der Bevölkerung nichts gebracht. Eine ähnliche Situation gibt es in Spanien und anderen Ländern. Welcher Weg wäre der richtige?
Schulmeister: Das ist ein entscheidender Punkt. Es muss Tsipras gelingen, aufzuzeigen, dass dies nicht nur ein griechisches Problem ist, sondern ganz Südeuropa inklusive Frankreich betrifft. Schon alleine aus diesem Grund kann man mit der bisherigen Politik nicht weitermachen. Man muss endlich begreifen, dass Europa am Ende einer Sackgasse angekommen ist.
Was bedeutet das?
Schulmeister: Europa befindet sich ökonomisch in einer Depression. Die Unternehmer sind mehrheitlich auch Verlierer dieser Krise. Da bedarf es grundlegend neuer Strategien. Ein Vorbild wäre der New Deal, mit dem Roosevelt die amerikanische Depression der 20er und 30er-Jahre erfolgreich bekämpfte.
Was wären das für Initiativen?
Schulmeister: Einmal Initiativen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Dies würde auch die Wirtschaft stimulieren, denn wenn die Leute wieder mehr Geld haben, fördert dies die Nachfrage im Inland. Dann Umweltschutzmaßnahmen. Da gibt es in Europa noch viel zu tun. Initiativen für eine Altenbetreuung, die eines zivilisierten Sozialstaates würdig ist. Wir werden ja nicht langfristig mit einem Modell durchkommen, wo Frauen aus der Ostslowakei 24-Stunden-Pflege machen. Es gibt genug Aufgaben. Es fehlt aber an Konzepten, wie man diese Arbeiten durchführen kann.
Warum?
Schulmeister: Weil bei all diesen Beispielen der freie Markt prinzipiell versagt. Der freie Markt kann keine gute Altenbetreuung organisieren. Er errichtet Residenzen, wo gut betuchte Menschen für einige tausend Euro gut aufgehoben sind. Aber flächendeckend ist das nicht durchführbar. Das wissen sogar die Neoliberalen. Fazit: Es geht nur durch mehr Staat. Und da blockieren die neoliberalen Politiker und Berater. Daher sind wir am Ende der Sackgasse.
Aber wer will schon zugeben, dass er den Karren in die Sackgasse manövriert hat?
Schulmeister: Das ist genau das psychologische Problem. Personen, die meinen, sich an christlichen Leitbildern zu orientieren, wie die deutsche Kanzlerin, können unmöglich akzeptieren, dass sie an der Verschlechterung der Lebenslage von Millionen Menschen mitschuldig sind. Es ist aber so. Denn ihre Sparpolitik hat zur Verelendung von zahllosen Menschen geführt.
Ist eine Umkehr überhaupt denkbar?
Schulmeister: Ich hoffe, dass der Wahlsieg der Syriza und ein möglicher Wahlsieg der Podemos-Bewegung in Spanien den Eliten eine Brücke bauen können. Nämlich insofern, als man sagt: Eigentlich halten wir unseren Kurs für richtig. Aber wir sind Demokraten und wollen nicht gegen die Bevölkerung zweier Staaten Politik machen … So könnte man die Kurve ohne großen Gesichtsverlust schaffen.
Sie sprachen vom europäischen Sozialmodell. Die EU macht aber eher den Eindruck, als ob sie mit Sozialem nichts am Hut hat. Wie könnte so ein Sozialmodell aussehen?
Schulmeister: Ein europäisches Sozialmodell gibt es ja! Es ist sogar in den europäischen Verträgen verankert. Ich betrachte es als großen Fehler, dass dies von Ökonomen und Politikern viel zu wenig hervorgehoben wird. So gibt es etwa ein Dokument der Europäischen Kommission, wonach festgelegt ist, dass bei allen Maßnahmen zur Konsolidierung der Haushalte genügend Mittel für Bildung und Gesundheit bereitgestellt werden müssen. Man könnte also einmal überprüfen, ob nicht die Sparauflagen der Troika dieser EU-Verordnung widersprechen. Wenn in Griechenland 40 % der Bevölkerung keine Krankenversorgung haben, dann widerspricht dies offensichtlich dem EU-Recht.
Wie kann man dies durchsetzen?
Schulmeister: Da braucht es breite Koalitionen. Ich könnte mir da auch eine größere Rolle der Kirchen vorstellen – nämlich aller Kirchen. Immerhin ist ein wesentlicher Bestandteil aller Religionen bis hin zum Islam eine soziale Grundhaltung. Vielleicht ist ja auch hier der gegenwärtige Papst einzubinden.
Hat man damit gegen die traditionelle Politik eine Chance?
Schulmeister: Vorbildhaft war für mich die Kampagne des deutschen Jesuiten Alt für die Finanztransaktionssteuer. Weil er Jesuit ist, hat er in die Kreise der CDU hineinwirken können und hat sie schlussendlich überzeugt, für diese Steuer zu stimmen. Man kann also schon etwas machen.
Als Ausweg werden derzeit von der traditionellen Politik Strukturreformen gefordert. Nicht nur in Südeuropa, sondern auch bei uns. Was würden die konkret bringen?
Schulmeister: Man muss das Wort Strukturreformen einmal in eine verständliche Sprache übersetzen. Strukturreform heißt, dass der Arbeitnehmerschutz auf den Arbeitsmärkten gelockert wird. Man schafft die Kollektivverträge im Prinzip ab, und die Lohnverhandlungen werden in die Unternehmen verlagert. Das heißt natürlich Lohnsenkung auf breiter Front. Genau dies ist in Spanien, Portugal und Griechenland passiert. Die Menschen dort verdienen heute um bis zu einem Drittel weniger als noch vor wenigen Jahren. Strukturreformen sind im Klartext eine Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer. Aber die Unternehmer haben deswegen nichts davon, weil dadurch der Konsum schrumpft. Ich kann das „Blabla“ über Strukturreformen schon nicht mehr hören.