Was wir zu Weihnachten feiern, ist grundlegend und hoch politisch
Der Wiener Neutestamentler zur aufrüttelnden Dimension der Evangelien

Sie sind Neutestamentler. Was sagt Ihnen das Weihnachtsfest?
Stowasser: Weihnachten ist das Geburtsfest Jesu. In der Antike herrschte die Vorstellung, dass sich die Bedeutung einer später großen Persönlichkeit schon bei der Geburt und in der Jugend zeige, das haben wir auch bei Alexander dem Großen oder Platon. Von daher finden wir bei Matthäus und Lukas eine ähnliche, der Antike entsprechende Ausdrucksweise, um die Besonderheit Jesu gegenüber anderen Menschen zum Ausdruck zu bringen. Ihre Erzählungen sind keine Kindheitsgeschichten, sondern Kindheitsevangelien: Sie sagen nicht in erster Linie etwas über die Geschichte Jesu aus, sondern über seine Bedeutung.
Kindheitsevangelien – wie können wir das verstehen?
Stowasser: Wenn man sich die beiden Kindheitsevangelien genau durchliest, sind sie vom Inhalt her anders, ja fast widersprüchlich. Das heißt: Jeder der beiden Evangelisten setzt einen besonderen Akzent der Bedeutsamkeit, der sich dann auch in seinem Buch über Jesus zeigen wird.
Bei Matthäus zum Beispiel ...
Stowasser: Bei ihm finden wir das Motiv, dass Jesus so wie ein neuer Mose der Retter seines Volkes sein wird. Sein Name „Jesus“ heißt: „Er wird sein Volk erlösen.“ In die Erzählung fließen Motive der Mose-Erzählung ein: Der künftige Retter wird als Kind verfolgt und mit dem Tode bedroht, entkommt aber mit göttlicher Hilfe. Auch werden die Mitgeborenen (bei Mose die Erstgeborenen, bei Jesus die Kinder ähnlichen Alters) getötet. Überraschenderweise erhält Jesus einen zweiten Namen: Imanuel, „Gott mit uns“. Dieses Motiv greift Matthäus als Schlusswort wieder auf, wenn der Auferstandene uns zusagt: Ich bin bei euch bis zum Ende der Tage.
Und das Lukasevangelium?
Stowasser: Lukas hat eine ganz andere Darstellungsweise gewählt, seine Botschaft ist wesentlich politischer: Jesus ist der wahre Retter. Die Engel verkünden: Heute ist euch der Retter geboren, der Herr; er ist der wahre Friedensbringer. Das ist deutlich auf Augustus gemünzt, der zu Beginn der Erzählung genannt wird, „es geschah in den Tagen des Augustus“. Jener wurde in der Antike ja als Weltenretter verehrt. Er war es, der die Bürgerkriege beendet hatte und Frieden brachte.
Ihm wird Jesus gegenübergestellt?
Stowasser: Ja, als der wirkliche Friedensfürst, der seinen Frieden nicht auf die Schwerter von Legionen gründet, sondern auf Gerechtigkeit, Frieden und Aussöhnung unter den Völkern: Friedensbringer ist nicht der als Gott-Kaiser verehrte Augustus, sondern Jesus Christus. Auch dessen beide anderen Titel, Retter und Herr, sind Titel des Kaisers. Lukas sagt: Jesus ist nicht nur der Messias der Juden, sondern auch der Herr und Retter der Heiden, er ist der Heiland aller Menschen. Er ist einer, der sich den Armen, den Entrechteten, den Randgruppen zuwendet. Sein Friede, seine Gerechtigkeit bedeuten etwas anderes, als es ein antiker Mensch aus dem politischen Alltag gewohnt war.
Die Evangelien haben also auch eine politische Dimension?
Stowasser: Die Geburtsszene Jesu ist eine hoch politische: Wenn wir bei Matthäus gesehen haben, dass der Jesus der Retter des Volkes ist, der, der mit der Kirche unterwegs ist, dann heißt das, dass Kirche dafür da ist, Menschen zu vermitteln, dass Gott mit uns ist; im zum Beispiel Einsatz für Asylanten: Gott ist mit diesen Menschen, er liebt sie, er ist mit uns unterwegs.
Bei Lukas ist es ähnlich: Selig die Armen, sie werden reich sein. Selig die Hungernden, sie werden Brot haben. Das bedeutet, dass die Kirche und der Christ, also nicht nur die Institution, sondern auch der Einzelne, dazu aufgerufen sind, sich auf die Seite derer zu stellen, auf deren Seite sich auch Jesus gestellt hat. Also durchaus auch politisch für die Entrechteten, für die Unterdrückten einzutreten.
Wir feiern Weihnachten aber meist eher idyllisch-beschaulich ...
Stowasser: Weihnachten hat immer etwas von Idylle an sich, von Wohlfühlfest. Es ist eben auch ein Kinderfest, und das scheint vielen ambivalent. Für Kinder ist Idylle völlig richtig. Weihnachten ist ein Fest, wo man glücklich ist. Kinder lesen Matthäus und Lukas in eins, es gibt bei Krippenspielen die Hirten neben den Magiern usw. Es ist kindgerecht, gefühlsmäßig die Grundbotschaft des Weihnachtsfestes aufzunehmen: Mit Gott sein ist schön, mit Gott sein macht glücklich, das ist ein Fest.
Ist Weihnachten nicht für viele nur noch ein Konsumfest?
Stowasser: Es ist wichtig, dass das nicht im Konsumrausch untergeht. Aber dass es mit Fest, mit Freude und Licht und Wohlfühlen zu tun hat, ist gerade für Kinder sehr wichtig. Idylle ist ein negatives Wort für uns geworden, weil es den Eindruck erweckt, man deckt für kurze Zeit alles zu. Aber wenn Idylle für Erwachsene ein schöner Moment ist, der Kraft gibt, um dann eben in die nicht so idyllische Alltagswelt wieder hinauszugehen, dann ist das doch etwas Wichtiges.
Es ist also ein Fest für Kinder ebenso wie für Erwachsene?
Stowasser: Das kindliche Erleben schafft eine Basis, sich altersgemäß weiterzuentwickeln und andere Dimensionen des Festes und seiner Texte kennen zu lernen. So, wie man sich ja auch in allen anderen Dingen des Lebens weiterentwickelt. „Liebe“ ist ja auch ein Begriff, der für ein Kind, einen Jugendlichen, einen Erwachsenen und einen alten Menschen jeweils eine andere Dimension der Wahrnehmung und des Erlebens hat.
Welche Bedeutung haben die Texte für Kirche und Gesellschaft?
Stowasser: Der aktuelle Bezug der Weihnachtsbotschaft ist bei Matthäus sehr stark dieses Imanuel-Motiv, Gott ist mit uns. Das zu vermitteln ist ein Auftrag an den Einzelnen wie an die Kirche. Da sehe ich schon auch die ganzen Strukturdiskussionen, die wir zur Zeit haben. In manchen Punkten steht sich Kirche selber im Wege und kann gar nicht mehr vermitteln: Gott ist mit euch, weil sie das nicht erlebbar macht, weil sie eine Art von Sonderwelt ist.
Und gesellschaftspolitisch?
Stowasser: Bei Lukas finden wir den Impuls, einem Gesellschaftssystem, einem Wirtschaftssystem gegenüber kritisch sein zu können. Das römische Weltreich ist ein Globalisierungskonzept der Antike. Ergibt sich daraus nicht eine Kritik an unseren Globalisierungskonzepten? Es gibt Opfer, die aus der Globalisierung herausfallen und auf deren Kosten wir leben. Eine ganze Thematik ist heute durch die Euro-Sorgen zugedeckt: Nämlich dass die ganze Dritte Welt noch immer dort ist, wo sie vor Jahrzehnten war und wir noch immer auf ihr stehen. Aus der Weihnachtsbotschaft ergibt sich eine Verantwortung für Gerechtigkeit in der Welt. Jesus ist ein Retter aller Menschen, nicht nur der westlichen Industrienationen.
Weihnachten heißt: durchaus ein freudiges Fest feiern, aber ein freudiges Fest in Verantwortung.
Zur Person:
Martin Stowasser ist Professor und stellvertretender Institutsvorstand für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien.