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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Von digitaler Demenz und dem Turbo im eigenen Gehirn

Ein Gespräch mit dem Psychologen und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer

Der renommierte Psychologe und Neurowissenschaftler zur Leistungsfähigkeit unserer Gehirnfunktionen, was wir dazu beitragen können, sie bis ins hohe Alter zu erhalten, und die heruntergespielten Nebenwirkungen digitaler Medien

Ein SONNTAG-Gespräch mit dem Psychologen und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer über die Leistungsfähigkeit unserer Gehirnfunktionen und was wir dazu beitragen können, sie bis ins hohe Alter zu erhalten. (© Foto: Georg Haab / SONNTAG)
Ein SONNTAG-Gespräch mit dem Psychologen und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer über die Leistungsfähigkeit unserer Gehirnfunktionen und was wir dazu beitragen können, sie bis ins hohe Alter zu erhalten. (© Foto: Georg Haab / SONNTAG)
 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Sie vertreten die These, dass der frühe Einsatz digitaler Medien die Entwicklung von Kindern nicht fördert, sondern massiv behindert. Wie beschreiben Sie das Problem in wenigen Sätzen?

Spitzer: Ähnlich wie ein Muskel, der wächst, wenn er viel gebraucht wird, ist es mit unserem Gehirn. Verbindungen zwischen seinen Nervenzellen wachsen immer dann, wenn wir es gebrauchen, also beispielsweise wahrnehmen, fühlen, denken, bewerten, entscheiden oder handeln. Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab, wir gebrauchen unser Gehirn also weniger. Dies birgt ganz besonders bei Kindern und Jugendlichen Risiken und Nebenwirkungen, denn deren Gehirne entwickeln sich ja erst und brauchen hierzu Betätigung.

Die Welt „be-greifen“, Sport, Musik usw. fördern die Gehirnentwicklung. Eigentlich alles „traditionelle“ pädagogische Werte? Dinge, die für umsichtige Eltern eigentlich selbstverständlich sein sollten? Auch Zweisprachigkeit zählen Sie zu diesen Entwicklungsturbos.

Spitzer: Mir ist es hierbei wichtig zu betonen, dass es sich um neueste Erkenntnisse aus der Gehirnforschung und Psychologie handelt, nicht etwa um romantische Pädagogik von vor 100 Jahren. Allerdings hatten die damals eine Reihe von Ideen, die wir aus heutiger Sicht voll unterstreichen können: die Bedeutung der Hände beim Begreifen (und damit meinen wir ja: „Verstehen“) der Dinge, Musik, Sport, Theater, Sprachen. Hier wird klar, wie sehr unser Gehirn von seinem Gebrauch profitiert: Praktisch jeder kann zwei Sprachen lernen, und wenn er dies getan hat und die zweite Sprache zeitlebens gelegentlich verwendet, dann bekommt er die Symptome einer Demenz, wenn sein Gehirn denn an einem entsprechenden Prozess erkrankt, volle fünf Jahre später! Dabei ist es nicht so, dass eine Zweitsprache etwa die Ablagerungen, die man bei Alzheimer Demenz im Gehirn findet, verhindern kann. Demenz beschreibt ja vom Wortsinn her den geistigen Abstieg; vom lateinischen „de“ – herab – und „mens“ – Geist. Es gilt, was für jeden Abstieg gilt: Je höher Sie beginnen, desto länger dauert es, bis Sie unten sind. Ist Ihr Gehirn also gut gebildet, d. h. sind durch intensiven Gebrauch viele Verbindungen gewachsen, dann treten Symptome später auf.

Ein Zweites fällt bei Ihrer Analyse auf: Bindung, Familie, sinnvolle Arbeit stellen Sie in der Lebensmitte als besonders wachstumsfördernde Faktoren dar, in der zweiten Lebenshälfte Enkel, Ehrenamt, Tanzen, Singen, Lachen – allesamt soziale und menschliche Werte. Der Mensch braucht den Menschen, damit es ihm gut geht?

Spitzer: Definitiv! Wie sehr große Studien an hunderttausenden von Menschen immer wieder zeigen, gibt es nichts Gesünderes als die Gemeinschaft! Anders gewendet: Einsamkeit ist für den Menschen langfristig tödlich. Der Grund ist letztlich, dass ein gutes soziales Nezwerk uns vor Stress schützt: Wenn ich weiß, dass mir bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit jemand hilft, mache ich mir weniger Sorgen, fühle mich dem also nicht ganz so hilflos ausgeliefert. Genau dieses Gefühl des Ausgeliefertseins ist identisch mit chronischem Stress. Und der macht krank.

Sind auch Glaube und lebendige Gottesbeziehung in diesem Zusammenhang von Bedeutung? 

Spitzer: Religiöse Menschen leben im Schnitt sieben Jahre länger. Wahrscheinlich ist der Grund ganz ähnlich wie die Auswirkungen von Gemeinschaft: Unser Stress-Niveau wird reduziert. Chronischer Stress führt zu Diabetes, Bluthochdruck, verminderter Abwehr gegen Keime und Krebszellen und hat daher sehr ungünstige Auswirkungen auf die Gesundheit.

Sie haben die Probleme von digitalen Lehrmitteln aufgezeigt und auf das Problem des fehlenden „Ethik-Beirates“ für Bildung und Pädagogik hingewiesen. Auch ein Dialog Gehirnforschung – Pädagogik wäre eine interessante Sache … Gibt es Pädagogen, die sich von Ihren Forschungsergebnissen anregen lassen?

Spitzer: Lehrer sind sehr interessiert, Erzieherinnen ebenso, und auch die meisten Eltern sind fundiertem Wissen über Lernprozesse – das kann die Gehirnforschung heute liefern – gegenüber sehr aufgeschlossen. 

Wie würde Ihrer Meinung nach ein sinnvoller, verantwortungsvoller Einsatz von EDV in der Schule aussehen?

Spitzer: In Kindergarten und Grundschule hat EDV nichts zu suchen. Auch in der Sekundarstufe 1 schadet sie nach allem, was wir wissen, deutlich mehr, als sie nützt: Viele große Studien aus Deutschland, Österreich, den USA und weiteren Ländern haben gezeigt, dass Computer in der Schule das Lernen und auch die Noten nicht verbessern, wohl aber zu mehr Unaufmerksamkeit führen. Selbst an den Universitäten bewirken Laptops im Hörsaal nachgewiesenermaßen einen geringeren Lernerfolg! Wenn ein pädagogisches Problem wirklich nachweislich besser mit dem Computer als ohne gelöst werden kann, dann mag der Einsatz durchaus sinnvoll sein. Aber es gilt eben, Wirkungen und Nebenwirkungen gegeneinander abzuwägen. Dies geschieht heute in der Praxis viel zu wenig, hier sehe ich großen Nachholbedarf. Es ist einfach nicht wahr, dass Informationstechnik wie von allein zu besserem Lernen führt. Das genaue Gegenteil ist der Fall, und es ist auch klar, warum das so ist: Schließlich leidet das Kopfrechnen ja auch unter dem Taschenrechner. Und Google macht das Lernen nicht leichter, sondern führt zu geringerem Lernen als das Lesen eines Buches oder einer Zeitschrift, wie amerikanische Wissenschaftler schon vor mehr als zwei Jahren im Fachblatt Science publizierten.

Weshalb ist Ihnen die Problematik ein so großes Anliegen?

Spitzer: In Anbetracht der überwältigenden Daten zu den negativen Auswirkungen digitaler Medien auf Kinder und Jugendliche kann ich als Arzt gar nicht anders, als vor deren Risiken und Nebenwirkungen zu warnen. Diese gibt es immer, wenn es Wirkungen gibt. Und diese sind ja da, denn vieles geht heute nicht mehr ohne Internet und Computer. Daraus folgt aber keineswegs, dass Kinder so früh wie möglich „he-rangeführt“ werden sollten. Im Gegenteil: Erst wenn man umfassend gebildet ist und verantwortungsvoll mit sich und der Welt umgehen kann, ist man auch „reif genug“ für die digitalen Medien. 

Was liegt Ihnen besonders am Herzen, was wir nicht übersehen sollten?

Spitzer: In erster Linie geht es mir um Aufklärung, und ich komme mir zuweilen vor wie jemand, der vor 30 Jahren vor den Gefahren des Rauchens gewarnt hat. Auch damals gab es Wissenschaftler (sie waren bestochen, wie wir heute wissen), die den Zusammenhang von Rauchen und Krebs bestritten haben. Und kaum ein Politiker wollte das Thema aufgreifen, weil er wusste, dass seine Beliebtheit leiden würde. Rauchen war „trendy“, versprach „Freiheit“ und „Abenteuer“. Internet und Computer beeinflussen die Gehirnentwicklung junger Menschen, und ihr Suchtpotenzial ist ebenfalls bekannt. Es kann nicht sein, dass wir die Gehirne der nächsten Generation –  und damit unseren Wohlstand und unsere Zukunft – dem Profitstreben einiger weniger sehr reicher amerikanischer Konzerne überlassen! Wir müssen unsere Kinder vor digitalen Medien schützen. Die Dosis macht das Gift, je weniger, je besser! Alles andere ist unverantwortlich!

 

Zur Person

Univ.-Prof. DDr. Manfred Spitzer, geb. 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, Habilitation für das Fach Psychiatrie (1989). Zwei Gastprofessuren an der Harvard-Universität, Forschungsaufenthalt am Institute for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon mit Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. Seit 1997 Ordinarius für Psychiatrie der Universität Ulm, Leiter der seit 1998 bestehenden Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm.