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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Vergeben braucht, der Wahrheit ins Auge zu schauen

Bernhard Bürgler SJ über Vergebung als Prozess, die Bedeutung der Anerkennung von Schuld und was der Advent auf diesem Weg beitragen kann


Foto: Haab
Foto: Haab

Bürgler: Verzeihen betont mehr das Tun des Einzelnen, das Tun dessen, der verletzt, gekränkt, ungerecht behandelt worden ist. Es geht um Schritte, die von ihm ausgehen. Versöhnen betont mehr das Gesamte, es involviert alle Beteiligten.

Wenn eine Verletzung geschehen ist: Welches sind die ersten Schritte, um zu einer Heilung zu gelangen?
Bürgler: Der erste wesentliche Schritt ist, sich überhaupt der Situation bewusst zu werden, nämlich dass man verletzt ist. Sehr oft wollen wir das nicht wahrhaben, weil wir es als Schwäche ansehen: Ich habe mich verletzen lassen, ein anderer hat Macht über mich bekommen. Wir wollen die damit verbundenen Gefühle nicht.
Der zweite Schritt ist dann die bewusste Entscheidung, zu vergeben. Das ist damit noch nicht geschehen, denn Vergeben ist kein einmaliger Akt, Vergeben ist ein Prozess. Aber die Entscheidung ist wichtig: Man könnte ja auch dabei bleiben und weiterhin sagen: Ich bin gekränkt, ich breche die Beziehung ab. Die Botschaft Jesu ist eine andere. Es ist wichtig, dass wir uns aufmachen, zu verzeihen. Ob das gelingt, das ist noch einmal eine andere Frage, weil das nicht nur von uns abhängt.

Sie haben auch betont, dass Vergeben nichts mit Schwäche, mit „Schwamm drüber“ oder dem Leugnen von Unrecht zu tun hat?
Bürgler: Verletzung, Kränkung, Unrecht, die passiert sind, müssen anerkannt werden. Zumindest ich selbst muss dem ins Auge schauen; wenn es von den anderen auch anerkannt wird, umso besser. Es geht nicht darum, etwas ungeschehen zu machen, sondern darum, es anzuerkennen. Auch anzuerkennen, was das in mir ausgelöst hat – und dann trotzdem einen Schritt weiterzugehen.

In Kärnten ist es nicht möglich, über Versöhnung zu reden, ohne an Bischof Schwarz und die diözesane Situation zu denken. Was macht es, dass von offizieller Seite bis heute nichts anerkannt wurde?
Bürgler: Mir scheint, es wäre in dieser Situation eine große Hilfe, wenn Bischof Schwarz sagen würde: Ich habe Fehler gemacht, ich habe Leute verletzt. Es wäre auch gut, wenn die Bischofskonferenz, auch ihr Vorsitzender, sagen würde: Wir haben Fehler gemacht, wir haben Dinge nicht gehört, übergangen, ignoriert. Ebenso täte ein Wort aus Rom gut: Da sind Dinge falsch gelaufen.
Ich denke, das wäre ganz wichtig, einerseits für die Menschen, die verletzt wurden, damit sie einen Schritt weitergehen können, andererseits für den kommenden Bischof, damit er gut neu beginnen kann. Wenn es von sonst niemandem gesagt wird, muss wohl er es sagen. Aber für ihn ist es wahrscheinlich schwieriger als für die anderen. Natürlich muss das auf Fakten basieren, aber die gibt es, denke ich. Dieser erste Schritt, dieses Anerkennen, ist notwendig. Es ist traurig und ärgerlich, dass dies noch nicht passiert ist.

Sehr oft wollen wir das nicht wahrhaben, weil wir es als Schwäche an-
sehen: Ich habe mich verletzen
lassen.

Manches hätte sich vermutlich anders entwickelt, wenn dieser Schritt schon getan worden wäre.
Bürgler: Das Nicht-Anerkennen, das Nicht-Eingestehen ist wie eine zweite Verletzung: Die erste war, was geschehen ist; die zweite, dass weder der Bischof noch die nächsten Zuständigen das bisher taten. Wenn das nicht gesagt wird, bleibt im Raum stehen, dass man dem Bischof ungerechterweise etwas vorwirft – und das setzt andere ins Unrecht.

Vergebung ist ein Prozess. In welcher Weise beeinflusst diese Verweigerung den Prozess?
Bürgler: Anerkennen des Unrechts, der Verletzung würde den Prozess zumindest erleichtern; ob er gelingt, ist eine eigene Frage. Aber das ist wohl eine Grundversuchung des Menschen, solche Dinge zu übergehen und ihnen nicht ins Auge zu schauen: als einzelner, in der Gruppe, in der Gesellschaft, in der Kirche. Auch in anderen Zusammenhängen konnte und kann man das beobachten, z. B. beim Thema Missbrauch.

Trifft das nicht eine andere menschliche Grundhaltung, nämlich die, Sündenböcke zu suchen und als Sühne zu opfern? Auch die Kirche hat eine lange Tradition von Opfer und Sühne, die sogar teilweise das Gottesbild verdunkelt hat.
Bürgler: Die Tendenz, Sündenböcke zu suchen und damit die Schuld von mir zu weisen und einem anderen aufzuladen, ist ein starker Mechanismus. Die christliche Botschaft befreit uns davon. Sie sagt, ich muss das nicht.

Wir brauchen also weder unsere Schuld abzuschieben noch einen Sündenbock zu opfern?
Bürgler: Die Botschaft Jesu ist: Es ist möglich, auf die Realität zu schauen, auf die Realität von Schuld, ohne jemanden zum Sündenbock zu machen. Es ist möglich, meine Anteile zu sehen und sie einzugestehen, ohne dass ich dann zum Bösen gestempelt und ausgegrenzt werde. Das ist ja unsere Angst, deshalb schieben wir es von uns weg auf andere. Meistens liegt Schuld auch nicht nur bei einem Beteiligen. Das wird in Kärnten auch so sein. Möglicherweise sieht man im Prozess dann auch Anteile anderer, Dinge, die nicht optimal gelaufen sind. Das kann man dann anschauen, es trägt zur Versöhnung bei und macht einen Neubeginn möglich. Es ist ja der Sinn von Versöhnung, dass Leben, dass Beziehung weitergeht. Nicht-Vergeben bricht Beziehung ab.

Die erste Lesung des heutigen ersten Adventsonntags spricht vom Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen. In welcher Weise kann der Advent Hilfe sein am Weg des Verzeihens?
Bürgler: Was uns in der Lesung verheißen ist, ist Friede. Versöhnung hat viel mit Frieden zu tun. Wenn ich nicht vergebe, wenn Versöhnung nicht geschieht, bleibt Unfriede, zumindest in mir selbst. Nicht zu vergeben beeinträchtigt nämlich oft weniger den anderen als mich selbst. Weihnachten erinnert uns an den Frieden, an die damit verbundene Freude und das damit verbundene Glück: Leben in Frieden ist möglich. Es kann gelingen, wir sind eingeladen, unseren Beitrag dazu zu leisten. Der Advent ist ein Zugehen darauf, er ist ein Weg dorthin.

Was möchten Sie, als Seelsorger, den Leserinnen und Lesern mitgeben auf den Weg durch den Advent?
Bürgler: Was mir zu Weihnachten wichtig ist: Wir feiern, dass Gott in die Welt kam und kommt, dass er in der Welt ist. Er wohnt unter uns. Ihn in allem zu suchen und zu finden, darum geht es. Inkarnation heißt: Er ist da. Nur: Wir müssen uns aufmachen, ihn zu entdecken. Kirche ist für mich eine Schule der Wahrnehmung, des Sehens und des Hörens, um Gott in unserem Leben zu entdecken: persönlich, im Miteinander, in der Gesellschaft usw. Rechnen wir damit, dass er da ist. An allen Orten, besonders aber an Orten, wo wir ihn am wenigsten vermuten – wie im Stall.

Interview: Georg Haab

Zur Person: P. Bernhard Bürgler SJ, geb. 1960 in Lienz/Osttirol, unterrichtete nach dem Studium der Selbstständigen Religionspädagogik in Rankweil Religion. 1991 trat er in den Jesuitenorden ein, promovierte zum Doktor der Theologie und absolvierte eine Ausbildung zum Psychoanalytiker. 1997 wurde er zum Priester geweiht. Es folgten Tätigkeiten als Spiritual, als Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter sowie als Psychotherapeut. Auslandsaufenthalte in Asien und Australien. 2014 wurde Bürgler zum Provinzial der österreichischen Jesuitenprovinz ernannt.