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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Unsere Demokratie ist weniger gefestigt, als wir glauben

Anneliese Rohrer im Gespräch mit Gerald Heschl über das mangelnde Engagement der Österreicher

 (© Foto: G. Eggenberger)
(© Foto: G. Eggenberger)

Die gebürtige Kärntnerin und ehemalige „Presse“-Journalistin setzt sich für mehr demokratische Mitsprache  und Verantwortungsbewußtsein ein.

In Ihrem Buch zeichnen Sie ein Bild von Österreich, das in dieser geballten Form fast schon ein Bild des Schreckens ist. Es strotzt nur so von Verfassungsbrüchen, die von den Hütern der Verfassung begangen werden. Was ist los mit diesem Land?
Rohrer: Dieses Land leidet erstens unter seiner Geschichte. Das reicht zurück bis zur Monarchie. Diese Geschichte liefert den Leuten die Ausrede für ihr Verhalten. Und zweitens darunter, dass wir uns nie die Demokratie selbst gegeben haben. Das heißt, die Leute halten das demokratische System nicht für ihres. Das ist die Politik, das waren die Alliierten, aber selbst fühlt man sich nicht als Teil dieser Demokratie.

Angesichts der aktuellen Missstände rufen Sie zum Engagement, ja zum Widerstand auf. Warum?
Rohrer: Die Situation ist gefährlich, wenn die Leute das Aushöhlen der Demokratie tolerieren. In einer echten Krisen – drastische Arbeitslosigkeit, Verlust von Sicherheit – und einer entsprechenden politischen Konstellation fürchte ich, dass sehr viele Österreicher bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben.

Aber jetzt leben doch schon zahlreiche Generationen mit und in dieser Demokratie ...
Rohrer: Das Nachkriegssystem wurde davon geprägt, dass sich die beiden großen Lager das Land aufgeteilt haben. Nach 1945 entstand eine Gnadenpolitik, die Arbeit, Wohnung, Karriere durch die Partei verteilte. Das hat damals Wohlstand gebracht. Aber mit dem Niedergang der verstaatlichten Industrie hat das System nicht mehr funktioniert. Dennoch haben sich die Leute nicht anders verhalten. Sie waren in einer Devotheit drinnen, die sie weitergegeben haben.

Der beliebte Spruch: Da kann man halt nichts machen, das war schon immer so, zieht ja auch hier.
Rohrer: Das ist nur eine Ausrede für Bequemlichkeit, Feigheit und Faulheit. Die Bequemlichkeit sagt: Man kann eh nichts machen. Die Faulheit: Ich habe selbst genug zu tun. Und die Feigheit sagt: Wer weiß, wo es mir schadet, daher ist es besser, ich rühre mich nicht.

Das ist verständlich in Staaten, wo es wirkliche politische Verfolgung gibt. In Österreich kann man noch immer kritisieren, ohne dass einem echte Gefahren drohen.
Rohrer: Wir haben nichts zu befürchten, und dennoch verhalten wir uns so. Dagegen rede ich an. Den Leuten muss bewusst werden, dass es ihre Angelegenheit ist und nicht Sache der Politik. Die „res publica“, der Staat, ist die öffentliche Angelegenheit, also Sache aller.
Herrscht angesichts der täglich neuen Vorfälle nicht eher Politikverdrossenheit und Resignation vor?
Rohrer: Was entscheidend ist: Es tut sich auch in Österreich unter der Oberfläche mehr, als man glaubt. Da braut sich etwas zusammen, das die Politiker offenbar noch zu wenig sehen oder spüren. Die Kluft zwischen Politik und Bürgern wird immer größer. Die Verbindung ist abgerissen. Die Mehrheit sagt, das sei Schuld der Politiker. Ich meine aber, dass die Verantwortung auch bei den Bürgern liegt, die zu bequem sind, sich mehr Gehör zu verschaffen.

Aber was kann der Einzelne wirklich tun?
Rohrer: Es kommt immer auf jeden Einzelnen an. Gerade mit den neuen Technologien gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Man kann Massen-E-Mail-Aktionen oder Demonstrationen organisieren, Foren bilden etc. Der öffentliche Raum ist viel weiter geworden, als dies früher der Fall war.

Sie kritisieren auch die mangelnden Konsequenzen in Österreich. In Deutschland musste Guttenberg wegen Plagiaten in seiner Dissertation zurücktreten. In Österreich liegen wesentlich schwerwiegendere Dinge vor – und nichts geschieht.
Rohrer: Guttenberg ist ein gutes Beispiel für die Kraft der sozialen Medien. Es gab zwei Lager, aber jenes, das seinen Rücktritt verlangt hat, war größer. Damit war er politisch nicht mehr tragbar. In Österreich ist mir so etwas nicht bekannt. Hier gibt es keinen Widerstand.
Wie könnte der konkret aussehen?
Rohrer: Es gibt etwa diese Flashmob-Aktionen, wo Leute zusammenkommen und spontan demonstrieren. Man könnte einen Flashmob gegen die Verteilungspolitik organisieren. Damit zeige ich den Politikern, dass ich sie durchschaut habe. Denn sie verteilen ja nicht ihr Geld, sondern ohnehin Steuergeld. Tun aber so, als käme es aus der privaten Kasse.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie Länder wie Kärnten oder Niederösterreich als „gelenkte Demokratien“. Wie kann man das verstehen?
Rohrer: Kärnten ist für mich das Schulbeispiel einer gelenkten Demokratie. Das liegt auch an der Schwäche der Opposition. So ist die demokratische Kontrolle außer Kraft gesetzt. Eigentlich müssten in Kärnten die Leute in Scharen auftreten – etwas tun! Es ist ja viel leichter, über die Politik zu schimpfen, als selbst die Fäden in die Hand zu nehmen. In Österreich glauben die Leute, wenn sie drüber reden, haben sie schon etwas getan. Das ist ein Irrtum!

Sehen Sie eine Instanz – eine Person oder Institution –, die eine Änderung glaubhaft einmahnen oder herbeiführen könnte? Eine Person, wie es angesichts des AKH- oder Lucona-Skandals seinerzeit Bundespräsident Kirchschläger war?
Rohrer: Nein, aber die Zeiten haben sich geändert. Auch damals hat es zehn Jahre gedauert, bis wirkliche Konsequenzen gezogen wurden. Man kann von der Politik keine Änderung erwarten. Die Zivilgesellschaft muss Druck aufbauen, bis die Politik versteht, dass es so nicht geht.

Wenn man sich die aktuellen Bewegungen etwa in Deutschland anschaut, so sind das gut situierte, eher ältere Bürger. Die Jugend findet sich eher selten.
Rohrer: Aber die Jungen müssen doch ermuntert werden, befähigt zum Diskurs und auch zum Widerstand. Ich muss den jungen Menschen die Furcht nehmen. Das muss in den Familien passieren, aber auch in den Schulen. Die Eltern sollten sich stärker darum kümmern, dass solche Fähigkeiten in der Schule ausreichend vermittelt werden.

Sie organisieren in Wien den Mutbürgerstammtisch. Wie ist da die Altersstruktur?
Rohrer: Die Mehrheit ist 50plus. Es sind nur ganz wenig Junge dabei. Im Grunde ist mir egal, wer die Veränderung bringt. Es bräuchte aber einen engeren Zusammenschluss von Jungen und Alten. Gerade auch, wenn es um Aktionen in sozialen Medien geht.

Wenn man sich die Situation anschaut, muss rasch etwas geschehen. Haben Sie Hoffnung?
Rohrer: Wir müssen anfangen, die Verantwortung für das System, das wir jahrzehntelang toleriert haben, zu übernehmen. Unsere Demokratie ist weit weniger gefestigt, als gemeinhin alle glauben. Wenn man sich überhaupt nicht mehr um die Spielregeln kümmert, darf man nachher nicht sagen: Das habe ich nicht gewusst und auch nicht gewollt.

 

Zu Person und Buch:

Anneliese Rohrer (* 24. September 1944 in Wolfsberg) begann nach ihrem Geschichte-Studium und Aufenthalt in Auckland 1974 bei der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. 1987 übernahm sie dort die Leitung des Ressorts Innenpolitik und wechselte 2001 in die Außenpolitik, die sie bis 2004 leitete. Seit 2010 schreibt Rohrer wieder regelmäßig für „Die Presse“, unter anderem in ihrem Blog „Rohrers Reality-Check“.

In ihrem jüngsten Buch Ende des Gehorsams schildert Rohrer den schlampigen Umgang der österreichischen Politik mit der Verfassung (z.B. Ortstafelfrage) und ruft zum Widerstand auf.
Braumüller-Verlag 2011, 136 Seiten, € 12,90.