Solidarität ist ein zentraler Wert
Pensionsexperte Bernd Marin über Gerechtigkeit und Solidarität
Sozialwissenschafter Bernd Marin ist im Gespräch mit Gerald Heschl überzeugt, dass alle eine Pension bekommen


Sie sind Pensionsexperte. Manche meinen, das sei eine aussterbende Art, weil es bald keine Pensionen mehr geben wird. Werden Menschen, die heute in den Arbeitsprozess einsteigen, überhaupt noch so etwas wie eine Pension erhalten?
Marin: Ja, selbstverständlich. Es wird immer Leistungen geben, die Pension heißen werden. Die Frage ist, wie diese dotiert sind. Das kann heißen: Wie viel bekomme ich pro Monat, nach wie vielen Jahren Arbeit, in welchem Alter? Je nachdem kommen sehr unterschiedliche Ergebnisse heraus. Der monatliche Scheck wird aber – und zwar nur relativ zu denselben Anspruchsvoraussetzungen – sicher schlechter werden; hingegen wird die Lebenspensions-Summe weiterhin zunehmen. Wir werden also anfänglich weniger, insgesamt aber immer mehr bekommen
Das hängt aber wohl mit der höheren Lebenserwartung zusammen ...
Marin: Natürlich. Dadurch wird die Bezugsdauer länger. Es ist eine Frage der Sichtweise: Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Allerdings möchte ich schon sagen, dass wir in Hinblick auf die Pensionen auf allerhöchstem Niveau jammern. Wenn Sie der Generation meiner Eltern gesagt hätten, dass sie als Ehepaar, als kleine Arbeitnehmer, in Summe gemeinsam mehr als 10 Millionen Schilling Pension erhalten, dann hätten die gesagt, Sie sind Plemplem.
Die Pensionen beruhen derzeit auf dem Generationenvertrag, einem solidarischen Modell. Hat dieser Generationenvertrag ausgedient?
Marin: Ich halte nichts davon, Solidarität krank zu reden. Das solidarische öffentliche Pensionssystem ist auch in Zukunft die tragende Säule der Alterssicherung. Nirgendwo funktionieren umfassende Alternativen dazu. Es ist überhaupt nicht überholt, aber überholungsbedürftig. Dieses System ist schwer reparaturbedürftig, weil die Politiker der Versuchung nicht widerstehen konnten und können, dreinzupfuschen.
Was heißt das?
Marin: Das hat dazu geführt, dass heute eine von drei Pensionen durch Umlagen nicht mehr gedeckt ist. Das ist aber die grundlegende Idee der Alterssicherung. Ein selbsttragendes System geht nur über Beitragsäquivalenz und ohne den Wildwuchs von Privilegien.
Wo sehen Sie diese Privilegien?
Marin: Es gibt Privilegien vor allem in der höheren Beamtenschaft, etwa bei den Landes- und Gemeindebediensteten und in „geschützten Werkstätten“ von der Altpolitik über die alten „Dienstordnungspensionen“ der Sozialversicherung bis hin etwa zur Nationalbank. Dort gibt es Mitarbeiter, die im Schnitt 600.000 Euro eingezahlt haben, aber 2,3 Millionen Euro an Leistungen erhalten!
Wie wollen Sie damit eine Pensionsreform einem normalen Angestellten erklären?
Marin: Das geht eben nicht, das ist der Kern der Sache. Wenn es besonders gut gestellte Gruppen gibt, kann man von einfachen Leuten nicht erwarten, dass sie Reformen zustimmen. Ein Bauarbeiter, der sich fast die gesamte Pension selbst bezahlt, wird nicht einsehen, dass bei ihm Einsparungen notwendig sind, solange es solchen Wildwuchs gibt, wo Leuten 75 Prozent ihrer sehr hohen Leistungsansprüche bezuschusst werden.
Da hört sich die Solidarität eigentlich auf.
Marin: Richtig. Das ist eine massive Verletzung der Solidarität durch berufsständische Privilegien. Genau da liegt das Problem. Das macht die Erstarrung des Systems verständlich, weil die Nutznießer ihre Privilegien mit Zähnen und Klauen verteidigen. Politisch traut man sich nicht drüber. Und natürlich ist es rechtlich auch nicht so einfach anzugreifen. Solidarität wird durch solche Umstände zerstört.
Wovon man aber ständig spricht, ist die Anhebung des Pensionsalters. Je mehr davon gesprochen wird, desto niedriger ist das tatsächliche Antrittsalter. Wie das?
Marin: Wir kommen um eine Anhebung auch bei uns natürlich nicht herum. Fast alle OECD-Länder haben seit etwa 1990 bis 2000 das faktische Antrittsalter angehoben. Österreich beginnt damit erst jetzt. Wir sind also 10 bis 20 Jahre hinter dem Rest Europas her und allein seit der Jahrtausendwende um weitere drei bis vier Jahre zurückgefallen. Außerdem haben wir eine der höchsten Lebenserwartungen in Europa. In Verbindung damit ergibt sich unvermeidlich ein großes Finanzloch.
Die Wirtschaft ruft nach einem Ende der Frühpension, entlässt aber ältere Arbeitnehmer immer früher. Ist das nicht ein Widerspruch?
Marin: Da ist schon etwas dran. In gewisser Weise liegt das auch an unserer Sozialpartnerschaft. Unternehmer und Betriebsräte sind sich auf Firmenebene oft erstaunlich einig. Das verwundert auch nicht weiter, denn es zahlt immer jemand Dritter: die Steuerzahler, die noch im Erwerb stehen.
Sollte die Wirtschaft also in Bezug auf die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer kreativer werden?
Marin: Ich gehöre zu den bösen Menschen, die sagen, wir brauchen – wenigstens vorübergehend – ein Bonus-Malus-System auch für Unternehmer, genannt „experience rating“, das von den USA bis zu den Niederlanden gut funktioniert. Es ist nicht einzusehen, dass auf Dauer der ganze Malus beim Arbeitnehmer liegt und die Betriebe ihre Mitarbeiter auf Kosten der Allgemeinheit in die Frühpension schicken.
Von den Alten zur Jugend: Immer mehr zahlen immer später ins Sozialsystem ein. Droht langfristig eine Altersarmut?
Marin: Ja und nein. Es hat keine Zukunft, bis zum 30. Lebensjahr das „Hotel Mama“ auszukosten. Andererseits ist es heute für die Jungen nicht ganz so einfach, Arbeit zu bekommen, in vielen Ländern Europas fast unmöglich. Aber man kann sagen, dass sich alles um zehn Jahre nach hinten verschiebt. Man ist ja heute länger in Ausbildung, bekommt später Kinder, wird auch viel später alt. Ich sehe darin einen stimmigen Prozess und nichts wirklich Beängstigendes.