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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Ruhe finden am Quellort des Lebens

Wolfgang Schwarz, Neutestamentler und ehem. Direktor des Bibelwerks, zu Jerusalem als Heiliger Stadt und in welcher Weise von dort Heil ausgehen kann

Wolfgang Schwarz, im Hintergrund Jerusalem vom Ölberg aus gesehen (
Wolfgang Schwarz, im Hintergrund Jerusalem, vom Ölberg aus gesehen (Fotos: Wikimedia/Bienchido; Haab)

Sie haben Anfang Dezember in Klagenfurt über Jerusalem referiert – eine Heilige Stadt für Juden, Christen und Moslems. Wie ist die Stadt dazu geworden?
Schwarz: Es ist fast ein Wunder, aber das hat sich geschichtlich entwickelt. Durch das Alte Testament erfahren wir, dass König David etwa um das Jahr 1000 v. Chr. die Stadt eingenommen hat. Damals hieß die Stadt Jebus. David hat dann auf dem Berg Zion – Jerusalem ist ja wie Rom auf sieben Hügeln gebaut – seinen Palast errichtet und die sogenannte Davidstadt gebaut und hat dorthin die Bundeslade überführen lassen. Dann plante er, für Gott eine Wohnung zu schaffen. Er hatte schon die Pläne für den Tempel detailliert vorbereitet, aber erst sein Sohn Salomo hat den Bau ausgeführt. Seine Mitte ist, wie es in der Bibel heißt, die Wohnung Gottes, das Allerheiligste, von der Gott durch das Aufstellen der Bundeslade in ihr Besitz ergreift. Dadurch wurde Jerusalem zum Zentrum des Volkes Israel.

Diese Bedeutung wurde dann von den Christen übernommen?
Schwarz: Jesus selbst und auch seine Anhängerinnen und Anhänger kamen aus dem Judentum und lebten in dieser Tradition. Darüber lesen wir in der Apostelgeschichte, wo es heißt, dass sie täglich im Tempel beteten und in ihren Häusern das Brot brachen. Auch zum sogenannten Apostelkonvent – früher sagte man Apostelkonzil – versammelte man sich selbstverständlich in Jerusalem, der Stadt des Todes und der Auferstehung Jesu.

Woher kommt die Bedeutung für die Moslems?
Schwarz: Im Jahr 632 n. Chr. stirbt Muhammad, und bereits 638 wird in Jerusalem die erste Moschee errichtet; dort, wo früher der jüdische Tempel stand. Die Christenheit war zu dieser Zeit sehr zerstritten. Muhammad wollte die jüdische und die christliche Religion im Islam vereinen. Deshalb enthält der Koran viele Elemente aus dem Alten und Neuen Testament. Und damit verbunden wollte der Islam auch an der Heiligkeit Jerusalems teilhaben und nennt Jerusalem Al-Quds oder El-Quds, die Heilige.

David hat „seine“ Stadt im Krieg erobert, dennoch wird „Jerusalem“ gerne von „Jeruschalajim“ abgeleitet, Stadt des Friedens.
Schwarz: Aus der biblischen Tradition, dass der jüdische Tempel die Wohnung und eine Ruhe-Stätte für Gott ist, wäre das natürlich plausibel. Dennoch ist diese Erklärung umstritten. Möglicherweise ist die Ableitung aus Jebus naheliegender. Aber es ist „schick“, das Bild Jerusalems mit der Friedenstaube angesichts aller Unklarheiten hinsichtlich des heutigen politischen Status der Stadt zu forcieren.

Auch David war ja nicht der fehlerfreie, friedliche König, als der er gerne stilisiert wird. Er und Jesus, der Erlöser – wie passt das zusammen?
Schwarz: Die davidische Tradition in den Schriften des Alten Testaments ist sehr ambivalent: Da gibt es David, den Krieger, und auch seine Frauengeschichten, und auf der anderen Seite läuft immer auch die Spur seiner Idealisierung, weil er als der von Gott auserwählte König galt. Und Jesus ist der „Sohn Davids“: Er ist im Geburtsort Davids, in Betlehem, geboren. Die Bibel ist oft ambivalent, und die Frage ist: Wie kann ich das aushalten? Trotz der Lebensführung Davids bleibt Gott seinem Idealbild von einem König Israels als Hirt seines Volkes treu. Dieses Idealbild wird schließlich auf Jesus übertragen. In ihm steht Gott wie ein guter Hirt auf der Seite der Menschen. Mit solchen „Spannungen“ in biblischen Texten umzugehen heißt, stets zu fragen, worin sich schlussendlich dieser Wille Gottes für das Heil für uns Menschen ausdrückt, auch wenn er nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar erscheint.

Sie meinen Spannungen im Sinne von Bewegung, von Prozess?
Schwarz: Ja, ein spannungsgeladener Weg. Mein Bruder, der ebenfalls Neutestamentler ist, hat es einmal treffend formuliert: Die Bibel regt an, über Dinge zu sprechen, über die heute nicht mehr gesprochen wird. Ein Beispiel dazu: Der Zorn Jesu bei der sogenannten Tempelreinigung. Zorn Jesu? Aber im Sinne des oben Gesagten kann Jesus schon zornig werden, wenn das Heilige – wie z. B. der Tempel – nicht gewürdigt wird, weil dadurch auch eine Entwürdigung Gottes einhergeht.

Auch in den adventlichen Texten, wie heute in der ersten Lesung, wird gern auf den Berg Zion Bezug genommen.
Schwarz: Beispielsweise verheißt der Prophet Jesaja, dass die Nationen nach Jerusalem kommen werden und dort an der Art, wie das Volk Israel lebt und Gott verehrt, die Herrlichkeit Gottes erkennen werden. Das Buch Micha zeichnet das Bild der Völkerwallfahrt nach Jerusalem, das im Neuen Testament die Erzählung vom Pfingstereignis prägt. Auch die Psalmen betonen Jerusalem als Idealziel für Wallfahrten. Der Visionär Ezechiel wieder sieht in einer Vision die Schwelle des Tempels, an der ein Fluss entspringt, der zum Toten Meer hinunterfließt und dieses gesund macht. Und wenn das Wasser dieser Quelle durch trostlose Gegenden fließt, erwacht neues Leben. Jerusalem ist also Quellort des Lebens.

Jerusalem – der Ort, an dem die Erlösungstat Gottes beginnt?
Schwarz: Wenn die Völker, wie es der Prophet Micha beschreibt, nach Jerusalem hinströmen, dann können sie dort die Herrlichkeit Gottes kennenlernen. Das heißt, sie können Ehrfurcht und Verehrung Gottes erleben, und wenn sie von den Heilstaten Gottes hören, verstehen lernen, warum Gott geehrt wird und Ansehen genießt.
Genauso ist es auch mit der Teilhabe am Ruheort Gottes in Jerusalem. Jerusalem ist nicht nur Wohnort Gottes, sondern auch ein Ort, wo er Ruhe findet. Es ist auffallend, an wie vielen Stellen in der Bibel Gott bzw. Jesus uns Menschen dazu verhelfen will, zur Ruhe zu kommen! Ist das nicht ein Bedürfnis vieler Menschen auch heute und eine Chance für die kirchliche Verkündigung? Ruhe bei Gott und durch ihn zu finden, kann bedeuten, Zeit zu finden für mich selbst, ein lebenswertes Leben anderen und mir zu gönnen, aber auch Schuld abzulegen.
Mich bewegt immer die Erzählung vom alten Simeon und von der hochbetagten Hanna im Lukas-Evangelium: Simeon fühlt sich hingezogen zum Tempel, und Hanna lebt dort sogar. In ihren Leben verwirklichen sie die im Alten Testament oft erwähnten Ideale, die Nähe Gottes im Tempel zu erleben bzw. in seiner Nähe zu leben.

Was wünschen Sie unseren Leserinnen und Lesern ins neue Kirchenjahr hinein?
Schwarz: Wir lesen und hören in diesem Kirchenjahr und im zweiten Jahr der Bibel schwerpunktmäßig das Matthäus-Evangelium. Das erste Kapitel schließt mit dem Prophetenzitat: „Siehe, die Jungfrau wird (...) einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns.“ Zwei Verse davor wird Josef allerdings von einem Engel im Traum aufgefordert, dem Kind den Namen Jesus zu geben. Aber dem Verfasser des Evangeliums war der Name Immanuel wichtig, weshalb er ihn auch noch übersetzt: Gott mit uns. Dieser Name ist für den Verfasser das Programm für das Leben und Wirken Jesu, gleichsam bis zu den letzten Wortenseines Evangeliums, in denen der Auferstandene seinen Jüngern verheißt: Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.
Ich wünsche uns allen, diesen großen Bogen, der das Matthäus-Evangelium überspannt, auch über das neue Bibeljahr zu spannen und zu erleben: Gott ist mit mir.

Interview: Georg Haab

Zur Person: Wolfgang Schwarz, 1951 in Wien geboren, 1977 zum Priester geweiht. Assistent am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Wien, 1985 Promotion. Nach Seelsorgetätigkeiten in der Diözese Wien wurde er 1987 Rektor des Österreichischen Hospizes in Jerusalem, 2004-2017 Direktor des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.