Religiosität liegt in der Natur des Menschen
Mit dem deutschen Gehirnforscher Joachim Bauer sprach Gerald Heschl
Der bekannte deutsche Gehirnforscher über Aggression, Erziehung und warum wir religiös sind.


Sie sprachen in Klagenfurt über Moral. Wie „gut“ ist der Mensch?
Bauer: Das kann man aus neurobiologischer Sicht so nicht beantworten. Die Sehnsüchte des Menschen sind auf soziale Akzeptanz und auf Zugehörigkeit ausgerichtet. Das macht den Menschen aber noch nicht „gut“. Allerdings hat sich die Theorie von Freud und Lorenz, derzufolge der Mensch einen „Aggressionstrieb“ habe und danach strebe, anderen Böses anzutun, als falsch erwiesen.
Was macht den Menschen dann aggressiv?
Bauer: Wichtigster Auslöser für die Aktivierung des Aggressionsapparates im Gehirn ist zunächst körperlicher Schmerz. Wenn ein Mensch in seiner körperlichen Unversehrtheit bedroht ist, muss er sich wehren. Eine bahnbrechende Entdeckung war nun, dass die Schmerznervenzellen des Gehirns nicht nur auf körperlichen Schmerz, sondern auch auf Ausgrenzung und Demütigung reagieren. Der Mensch war immer ein soziales Lebewesen. Ausgrenzung bedeutete Todesgefahr. In unserer heutigen Welt der knappen Ressourcen sind Kampf und Neid allgegenwärtig. Weil Menschen dabei immer wieder benachteiligt werden und sich ausgegrenzt fühlen, ist die Aggression ein Teil unserer Welt.
Kann man in unserer Überflussgesellschaft wirklich von knappen Ressourcen sprechen?
Bauer: Es geht dem Menschen ja nicht nur um materielle Ressourcen, sondern auch um Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Liebe, also um soziale Ressourcen. Diese immateriellen Ressourcen sind knapp, obwohl wir im materiellen Überfluss leben. Kinder zum Beispiel, die keine Zuwendung bekommen, leben im Zustand der permanenten Ausgrenzung und verhalten sich daher aggressiver als Kinder, die gute Bindungen zu ihren Eltern haben.
Wie weit ist moralisches Verhalten eigentlich angeboren und wie viel macht die Erziehung aus?
Bauer: Menschen besitzen zwar von Natur aus die Kompetenz und Begabung zur Moral, moralisches Verhalten muss aber gelernt werden. Die natürlich angelegte moralische Begabung wird in Form des Frontalhirns, des so genannten Präfrontalen Cortex, sichtbar. Hier befinden sich Nervenzellnetzwerke, deren einzige Aufgabe darin besteht, Informationen darüber zu sammeln, wie das, was ich tue, sich anderen Menschen darstellt.
Also doch angeboren?
Bauer: Die Begabung zur Moral ist angeboren, nicht aber die Moral selbst. Wir werden mit dem Präfrontalen Cortex geboren. Dieser muss aber während der ersten 20 Lebensjahre langsam reifen. In dieser Zeit muss er mit Informationen gefüllt werden. Das geschieht im Rahmen eines Prozesses, den wir Erziehung nennen. Die Konstruktionsmerkmale unseres Gehirns zeigen, dass Erziehung kein gegen die Natur des Menschen gerichtetes Programm ist, sondern zu unserer biologischen Bestimmung gehört. Wenn wir Kindern die Erziehung verweigern und ihnen keine sozialen Regeln beibringen, versündigen wir uns nicht nur an der Reifung ihrer Persönlichkeit, sondern auch an der Reifung ihres Gehirns.
Der Mensch hat also das Potenzial, moralisch zu handeln. Warum tut er es dann so oft nicht?
Bauer: Bei dieser Frage muss man zwischen psychisch durchschnittlich gesunden Menschen und Psychopathen unterscheiden. Ein psychisch halbwegs gesunder Mensch verhält sich vor allem dann aggressiv, wenn die seelische „Schmerzgrenze“ berührt wird oder wenn, wie schon erwähnt, wichtige Ressourcen knapp sind. Wer Schmerz erleidet oder wer sich ungerecht behandelt, ausgegrenzt oder gedemütigt fühlt, spürt Ärger. Man sollte diesen Ärger dann in angemessener Weise kundtut, also andere Menschen ansprechen. Oft schießen wir in unserer Wut aber über das rechte Maß hi-naus und handeln dann „böse“. Bei Psychopathen ist die Lage aber eine andere: Bei ihnen liegen krankhafte Veränderungen der Seele und des Gehirns vor. Die Art und Weise, wie sie mit Aggression reagieren, ist krankhaft und für Laien unverständlich. Die Gemeinschaft muss vor solchen Leuten natürlich geschützt werden.
Was Sie zur Reifung der Moralzentren des menschlichen Gehirns im Präfrontalen Cortex ausgeführt haben, zeigt eigentlich erst so richtig die Bedeutung von religiöser, wertorientierter Erziehung ...
Bauer: Jede gute Erziehung besteht aus zwei Bestandteilen: Der eine Teil ist die dem Kind vom ersten Lebenstag an gegebene Geborgenheit, Liebe und Zuwendung. Der zweite Bestandteil ist, dass ein Kind ab dem dritten Lebensjahr zur Einhaltung der Regeln des sozialen Miteinanders angehalten werden muss. Jedes Kind muss lernen, seine Impulse zu mäßigen, zu warten und zu teilen. Aus christlicher Sicht könnte man sagen: Überall da, wo wir Kinder mit Liebe erziehen und wo wir ihnen ein Vorbild für gutes soziales Verhalten sind, dort stehen wir im Einklang mit Gott.
Es gibt einen ständigen Disput zwischen Religion und Naturwissenschaften – gerade im Bereich der Biologie und Medizin. Sehen Sie einen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion?
Bauer: Der christliche Glaube steht nicht im Widerspruch zu den Naturwissenschaften. Die beiden Bereiche sind jedoch voneinander zu trennen. Charles Darwin war sich in der Gottesfrage übrigens unsicher, er war keineswegs Atheist. Man kann sehr wohl glauben und zugleich Naturwissenschaftler sein. Ich würde sogar soweit gehen und sagen: Ganz offensichtlich ist die Fähigkeit zur Religiosität in der Natur des Menschen verankert. Religiosität ist eine Möglichkeit, die Sehnsucht des Menschen nach Gemeinschaft, für die wir bestimmt sind, zu leben.