Organisation

Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Religionen geben Orientierung

Univ.-Prof. Johann Figl im "Sonntag"-Gespräch zur Frage: Wozu Religion?

Der Wiener Theologe zur Frage, welche Orientierung Religionen geben, über moderne Atheismen und Papst Franziskus

Der Wiener Religionswissenschafter Johann Figl im “Sonntag“-Gespräch über Aufgabe und Sinn von Religion und Kirche (© Foto: univie.ac.at)
Der Wiener Religionswissenschafter Johann Figl im “Sonntag“-Gespräch über Aufgabe und Sinn von Religion und Kirche (© Foto: univie.ac.at)
Univ.-Prof. Johann Figl (© Foto: univie.ac.at)
Univ.-Prof. Johann Figl (© Foto: univie.ac.at)

Wir leben hier in einer weitgehend säkularisierten Welt. Wie kann uns Religion heute Orientierung geben?
Figl: Normalerweise unterscheidet man bei Religionen drei grundlegende Dimensionen: den Glauben, den Kult und die Ethik. Heute ist es notwendig, eine vierte Dimension hinzuzunehmen, nämlich Lebensweisheit. Das heißt, Orientierung für das Leben zu geben. Wie das konkret ausschaut, ergibt sich aus der jeweiligen Situation.

Die unterschiedlichen Religionen geben aber verschiedene Antworten. Gibt es verbindende Elemente?
Figl: Da sind zum Beispiel die mystischen Traditionen, die mir sehr wichtig erscheinen und die miteinander ins Gespräch kommen sollten. Das Christentum hat ja eine lange Tradition, angefangen  mit den Weisheitsbüchern des Ersten, des Alten Testamentes. Aber auch im Neuen Testament finden wir viele solche weisheitliche Orientierungen. Vom Buddhismus können wir etwa Achtsamkeit lernen. Diese spezielle Achtsamkeitsmeditation wird nicht nur im religiösen Kontext angewendet, sondern zum Beispiel heute in Amerika in Kliniken, wo Sterbenskranke sind. Diese setzen sich mit Fragen der oft völlig unerwarteten tragischen Realität auseinander. Da, wo es kaum säkulare Antworten gibt, kann eine religiöse Praxis Sinn-Orientierung geben.

Findet man Lebensweisheiten nicht auch in der Bibel?
Figl: Viele dieser Lebensweisheiten finden sich v.a. in Gleichnissen wieder, in Vorstellungen von Lebensmodellen, von Möglichkeiten. Jesus wird gefragt: Wer ist mein Nächster? Er definiert aber nicht, wer sein Nächster ist, sondern Jesus erzählt eine Geschichte, in der er sagt, worauf es ankommt. Das ist eine Antwort, die wirklich zeitlos ist, auch in der Sprachform. Das ist wichtig, weil die Religionen heute in ihren Begriffen schwer verstanden werden.

Stimmt der Anschein, dass Kirchen lieber von Ethik und der Bewahrung von Kulturgütern reden, als von Transzendenz und Gott, wenn sie kritisch angefragt werden?
Figl: Die ethische Dimension ist zweifellos eine wichtige Instanz. Ebenso sind auch die Kulturgüter, die die Kirche bewahrt und betreut, ein wesentlicher Wert in diesem Land. Aber darüber hinaus liegt der Kern jeder Religion in der Erfahrung einer transzendenten, diese Welt überschreitenden Wirklichkeit. Einer Realität, die nicht im innerweltlichen Verrechnen aufgeht, sondern in der der Mensch über sich hinaus schreitet zu einem unverfügbaren absoluten Göttlichen. Man muss im Reden über Gott hinzufügen, dass die Wirklichkeit Gottes auch unaussprechlich ist und sich darin das Göttliche zeigt, und die Religionen sind gut beraten, wenn sie sich auf ihr Kernanliegen beziehen und von dort her ihren Beitrag zur Lebensgestaltung bringen.

Haben Kirchen, aber auch die Theologie, das Reden von Gott zu sehr fundamentalistischen Strömungen überlassen?
Figl: Die fundamentalistische Versuchung ist ernst zu nehmen und kommt auch dadurch zustande, dass Menschen orientierungslos sind und sich auf eine einzige Antwort konzentrieren und doktrinär jede andere Möglichkeit des Religionsverständnisses ausschließen. Diese Gefahr kann man durch das offene Gespräch, durch die Besinnung auf die Mitte der Religion umgehen und relativieren. Gott ist das Fundament unseres Lebens, aber sicher nicht in einem fundamentalistischen Sinn. Er ist die Basis, von der unsere Welt zu verstehen ist. Wer das einengt auf eine doktrinäre Sicht, der hat nicht die Weite der Religion verstanden.

Der andere Pol, mit dem sich die Kirche auseinandersetzen muss, sind die modernen Atheisten. Sie selbst sind schon lange in der Atheismusforschung tätig. Wie beurteilen Sie etwa das Kirchenvolksbegehren gegen vermeintliche Privilegien?
Figl: Ich glaube, hier hat die Bevölkerung verstanden, was die Religionen, insbesondere das Christentum, in diesem Land leisten. Auch aus staatlicher politischer Sicht kann nicht auf die Leistungen der Caritas oder der Diakonie verzichtet werden. Es bedarf in einer Gesellschaft, in der nicht alles geregelt werden kann, neben den Gesetzen einer zusätzlichen Hilfe. Hier unterstützt oft  eine religiöse Motivation. Das haben auch Menschen verstanden, die der Kirche fern und nicht in dieser Form gläubig sind. Sie haben begriffen, dass die Religion nicht einengend ist, sondern Werte beibringt, die, wenn es zum Beispiel nicht die kirchlichen Spitäler oder Schulen gäbe, fehlen würden.

Wie beurteilen Sie diesen Neuen Atheismus, der vor allem aus Großbritannien kommt?
Figl: Diese neue Form des Atheismus, die im letzten Jahrzehnt entstanden ist, wie z. B. der radikale evolutionistische Ansatz von Richard Dawkins, ist eigentlich nicht von jenem Niveau, das der klassische Atheismus schon vor 150 Jahren erreicht hat. Man muss diese Strömungen aber ernst nehmen, weil sie einen Unmut zum Ausdruck bringen. Es wäre aber zu wünschen, dass diese Atheisten und Religionskritiker anerkennen, dass sich auch die Kirchen in den letzten 100 Jahren in wichtigen Aspekten geändert haben.

Sie plädieren also für einen Dialog?
Figl: Das Gespräch ist immer notwendig. Bei dem Gespräch zwischen den Religionen muss auch der Partner der Religionskritik, auch der der Relgion fernsteht, präsent sein. Wir wissen aus statistischen Umfragen, dass in Österreich nach den Christen die nächst größere Gruppe jene sind, die sich zu keiner Religion bekennen. Sie sind nicht unbedingt areligiös, identifizieren sich aber nicht mit einer der heute bestehenden Religionen. Auch sie müssten immer Adressat der kirchlichen, religiösen Botschaften sein.

Gibt es also ein großes Potenzial an Menschen, die spirituell ansprechbar wären?
Figl: Es gibt viele religiöse Sucher, die mit den etablierten Formen des religiösen Lebens nicht zurecht kommen. Manche haben auch negative Erfahrungen gemacht. Heute darf man aber nicht sagen, dass diese Menschen die Religion abgeschrieben haben. Im Gegenteil. Sie sind Suchende und sehr aufgeschlossen. Sie kennen oft auch sehr gut die Inhalte der Religionen. Es bedürfte daher eines hermeneutischen Gesprächs, eines Austauschs, einer Erklärung. Ich denke, dann kämen sich Menschen, die voll kirchlich integriert sind und jene, die am Rande oder sogar weit weg stehen, wieder viel näher.

Es hat den Anschein, als ob Papst Franziskus diese Menschen gut anspricht.
Figl: Was den Papst betrifft, so gibt es viele Wortmeldungen von religiös distanzierten Menschen, die sagen: Ja, er lebt überzeugend das, was er verkündet. Der Besuch in Lampedusa war ein ganz klares Zeichen. Er stärkt dadurch viele, die diese Anliegen, die auch in der Befreiungstheologie thematisiert wurden, vertreten. Es ist eine große Stütze, wenn dies von oberster Stelle nicht nur toleriert, sondern vorgelebt wird.