Putins Festpiele: Keine Medaille für Menschenrechte
Russlandexpertin Susanne Scholl im Gespräch über die Lage der Menschenrechte in Putins Russland
Zwei Wochen lang haben die Winterspiele in Sotschi die mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wie es hinter der Fassade der Spiele aussieht, berichtet die langjährige ORF-Korrespondentin im Gespräch mit Susanne Huber.


In Russland werden Menschenrechte mit Füßen getreten. Welche konkret?
Scholl: So ziemlich alle, die es gibt. Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sind massiv eingeschränkt, es herrscht Diskriminierung von ethnischen Minderheiten und von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen. Nichts, was in einem demokratischen Staat zu gelten hätte, gilt in Russland.
Hat sich die Situation im Land verschärft, seit Putin 2012 seine dritte Amtszeit als Präsident angetreten hat?
Scholl: Es hat sich im Wesentlichen alles weiter zugespitzt. Putin ist jetzt insgesamt seit mehr als zehn Jahren im Amt, und er hat systematisch von seinem ersten Tag an begonnen, die Opposition in eine Ecke zu treiben, die Medien gleichzuschalten, sich die Justiz zu unterstellen und sie für seine persönlichen Zwecke zu benutzen. Es gibt eine enorm hohe Korruption, die unter Putin massiv angestiegen ist. Es fehlt an Perspektiven, und die Wirtschaft geht zurück. All diese Dinge wirken sich natürlich auch auf die Bevölkerung aus.
Wie groß ist der Druck der russischen Behörden auf Aktivisten, NGOs, Journalisten, die Miss-stände im Land aufdecken wollen?
Scholl: Auf Menschenrechtsaktivisten ist der Druck außerordentlich hoch. Die neueste Geschichte ist, dass man alle Menschenrechtsaktivisten, die eine Finanzierung aus dem Ausland bekommen, dazu zwingen will, sich als ausländische Agenten zu deklarieren. Das ist natürlich ein negativer Begriff und bedeutet, dass man sie auf alle nur möglichen Arten und Weisen daran hindert, aktiv zu sein. Auch auf russische Journalisten ist der Druck enorm hoch. Es hat Morde an Aufdeckerjournalisten gegeben. Der prominenteste Fall war der von Anna Politkowskaja, die 2012 in Moskau erschossen wurde.
Es heißt, Putin habe die Greenpeace-Aktivisten, die zwei Frauen der Band Pussy Riot und den Kreml-Gegner Michail Chodorkowski nur deshalb freigelassen, um sein Image vor Olympia in der Welt zu verbessern. Sehen Sie das auch so?
Scholl: Ja, das war keine echte Amnestie. Chodorkowski hat er erpresst, indem er gesagt hat, entweder du verlässt sofort das Land oder du bleibst bis an dein Lebensende im Gefängnis. Was die Mädchen von Pussy Riot betrifft, so wäre deren Haftzeit ohnehin im März abgelaufen. Und die Greenpeace-Leute waren zum Teil Ausländer. Sie in Haft zu lassen, wäre Putin zu peinlich gewesen. Gleichzeitig wurde jetzt mehreren jungen Männern der Prozess gemacht, die seit Mai 2012 wegen absurden Anschuldigungen völlig zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Die verlangten Haftstrafen liegen zwischen fünfeinhalb und sechs Jahren. Ein Umweltaktivist, der ein kritisches Plakat an den Zaun einer Gouverneursvilla gehängt hat, ist gerade zu drei Jahren Haft verurteilt worden.
Wie sind denn die Bedingungen für Gefangene in Straflagern und Gefängnissen in Russland?
Scholl: Die Zustände in den Gefängnissen insgesamt sind laut gleichlautender Aussage sämtlicher Kommissionen, die russische Gefängnisse besucht haben, absolut katastrophal. Eines der Mädchen von Pussy Riot ist ja in den Hungerstreik getreten aus Protest gegen die Haftbedingungen. Man weiß, dass auch Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung stehen. Das gilt vor allem für Angehörige nationaler Minderheiten.
Wissen Sie, wie die Stimmung der Bevölkerung angesichts der Spiele derzeit ist?
Scholl: Ich glaube, dass die Leute sich Sorgen machen, weil die Gefahr von Terroranschlägen sehr groß ist. Andererseits hat man sie seit sieben Jahren dermaßen bombardiert mit Propaganda zum Thema Sotschi und welch ein Glück das für Russland ist, dass sie vermutlich alle bereit sind, zu jubeln und sich das im Fernsehen anzuschauen. Denn nach Sotschi fährt von den Leuten im Land kaum jemand – erstens, weil sie es sich nicht leisten können, und zweitens, weil Sotschi aus Angst vor Anschlägen eine Art Hochsicherheitszone ist, wo kaum jemand hinein kann. Selbst für die Bürger der Stadt gibt es Zutrittsverbote für bestimmte Zonen. Ihre Bewegungsfreiheit ist massiv eingeschränkt, und die Preise sind ins Unermessliche gestiegen.
Menschen, die in Sotschi gelebt haben, sind ja vertrieben worden ...
Scholl: Ja, und zwar im großen Ausmaß. Überall dort, wo für die Spiele Stätten gebaut wurden, hat man die lokale Bevölkerung kalt enteignet und vertrieben und sie nicht einmal entschädigt. Sie leben in Behelfsunterkünften und warten auf die ihnen versprochenen Ersatzquartiere. Schon vor sieben Jahren, als bekannt wurde, dass die Spiele in Sotschi stattfinden werden, haben die Leute, die dort gelebt haben, befürchtet, dass sich ihre Lebensbedingungen gravierend verschlechtern werden. Ich war damals kurz dort, viele Menschen haben zu mir gesagt, wir werden die Verlierer sein, man wird uns vertreiben, man wird uns hier nicht mehr arbeiten und unsere Geschäfte machen lassen. Und genau das ist eingetreten. Zu glauben, dass Olympische Spiele der örtlichen Bevölkerung etwas bringen, ist im Allgemeinen immer ein Trugschluss.
Im Gegensatz z. B. zum deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck besuchte u. a. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann die Olympischen Spiele. War diese Entscheidung richtig?
Scholl: Ich wäre gegen einen Boykott der Spiele insgesamt. Die Sportler, die sich jahrelang auf die Olympischen Winterspiele vorbereiten, sollen ihre Spiele haben. Ich denke aber, kein Politiker hätte hinfahren müssen. Ich finde es richtig, dass Gauck nicht gefahren ist, ich finde es auch richtig, dass US-Präsident Obama, EU-Justizkommissarin Reding, der britische Premier Cameron und der französische Präsident Hollande nicht gefahren sind. Und ich finde es nicht richtig, dass Bundeskanzler Faymann dort war.
Welche Veränderungen braucht es Ihrer Meinung nach in Russland, damit sich für die Menschen etwas positiv entwickeln kann?
Scholl: Es braucht die Möglichkeit, tatsächlich einen Weg in Richtung Demokratie zu gehen, die jetzt wieder gestoppt ist. Es braucht freie, faire Wahlen, es braucht Perspektiven, dass sich eine Zivilgesellschaft entwickelt, es braucht eine wirklich unabhängige Justiz und einen normalen Umgang des Staates mit seinen Bürgern.
Sie waren fast 20 Jahre lang ORF-Korrespondentin in Russland. Wie haben Sie die Menschen dort erlebt? Wie prägend war diese Zeit für Sie?
Scholl: Die war sehr prägend. Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt und sehr, sehr viele Freunde gewonnen, darunter Künstler, Musiker, Schauspieler – Menschen mit großartigen Ideen, mit großem Herz und mit unglaublicher Bereitschaft, mit einem zu reden und sich mit großem Interesse an allem, was in der Welt vor sich geht, auseinanderzusetzen. All das macht dieses Land, in das ich regelmäßig immer wieder fahre, unglaublich liebenswert, trotz der politischen Situation. Ich habe mich dort sehr zu Hause gefühlt und leide daher auch sehr mit den Menschen dort mit.
Zur Person:
Susanne Scholl wurde 1949 in Wien geboren und studierte Slawistik in Rom. In der Auslandsredaktion der Austria Presse Agentur hat sie das journalistische Handwerk gelernt. Danach arbeitete sie u. a. als ORF-Korrespondentin in Bonn und war fast 20 Jahre lang Korrespondentin in Moskau, wo sie das ORF-Büro leitete. Seit 2009 ist Susanne Scholl als freie Journalistin und Autorin in Wien tätig.