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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Politische Bildung ist mehr als Faktenwissen

Kathrin Stainer-Hämmerle, Politikwissenschaftlerin, setzt sich für politische Bildung ein und verrät, was das ist und wie man diese Form der Bildung am besten vermittelt

Sie setzen sich massiv für politische Bildung in Schulen ein. Was sind die Ziele einer politischen Bildung?
Stainer-Hämmerle: Lassen Sie mich einmal sagen, worum es nicht geht: Es geht hier nicht darum, dass die Lehrer abprüfen, wie viele Abgeordnete im Landtag oder im Nationalrat sitzen. Es geht um allgemeine Fähigkeiten wie Urteilsfähigkeit, demokratische Prozesse etc. Also im Grunde geht es um die Prinzipien der politischen Bildung, die eigentlich in jedes Fach fließen sollten.

Politikwissenschaftlerin Dr. Kathrin Stainer-Hämmerle im Sonntag-Interview (Foto: Stainer-Hämmerle)
Politikwissenschaftlerin Dr. Kathrin Stainer-Hämmerle im Sonntag-Interview (Foto: Stainer-Hämmerle)

Die Schule gilt aber vornehmlich als Wissensvermittlung. Wie kann man sich in diesem Sinne politische Bildung vorstellen?
Stainer-Hämmerle: Denken Sie dabei etwa an Medienbildung. In Zeiten von Fake-News stellt sich die Frage, welche Quellen vertrauenswürdig sind. Ziel sollte es sein, dass sich junge Menschen eine Meinung bilden, Vorurteile und Urteile ausei-nanderhalten können und sich artikulieren lernen. Das sind Dinge, die man natürlich nur schwer abprüfen kann. Es wäre aber noch wichtiger, Demokratie an den Schulen zu leben.

Was heißt das?
Stainer-Hämmerle: Etwa die Frage, wie Klassensprecher gewählt werden, wie manche Entscheidungen fallen – etwa wohin der Schulausflug gehen soll – und ganz generell, wie man in der Klasse diskutiert. Schule ist sicher ein hierarchisches Verhältnis, das man nicht immer durchbrechen kann und soll. In meinen Augen wäre es am erfolgreichsten, wenn man Schülern einen Gestaltungsfreiraum gibt, wo sie eigenverantwortlich etwas tun können.

Das ist aber auch ein hoher Anspruch an die Lehrenden
Stainer-Hämmerle: Lehrer sind hier natürlich auch verunsichert. Das größte Problem für viele Lehrer ist, dass man Haltungen und Meinungen ja nicht beurteilen kann. Wie sollen sie mit ihrer eigenen Rolle umgehen? Aber die Rolle des Lehrers, der alles weiß, ist ohnehin passé. Dennoch umschifft man gerne kontroversielle Themen.

Welche Themen sind besonders schwierig?
Stainer-Hämmerle: Nun, ich denke, dass man in der Schule keine parteipolitische Propaganda machen soll, aber Parteipolitik ganz auszuschließen, hieße, ein Thema zu ignorieren, mit dem die Jugendlichen täglich konfrontiert werden. So zu tun, als gäbe es keine Parteipolitik oder diese gar schlecht zu reden im Sinne von: „Darüber spricht man nicht!“ – das wäre falsch. Dasselbe gilt für religiöse Themen wie das Kopftuchverbot. Man soll sich nicht über heikle Themen herumschwindeln. Allerdings möchte ich da auch eine Lanze für die Schulen brechen: Viele Schulen erlebe ich als sehr engagiert in diesem Bereich. Leider ist aber im Regelunterricht mit all seinen Anforderungen – wie z. B. der Zentralmatura – viel zu wenig Zeit dafür.

Ganz ohne Wissensvermittlung wird es bei diesen Themen aber auch nicht gehen
Stainer-Hämmerle: Man muss selbstverständlich Fakten vermitteln, weil es einer Grundlage bedarf, um Zusammenhänge zu verstehen. Aber dann geht es um die Auswirkungen des eigenen Handelns, die reflektiert gehören.

Welche positiven Auswirkungen für die Gesellschaft könnten sich aus politischer Bildung ergeben
Stainer-Hämmerle: Als Politikwissenschafterin halte ich es für gefährlich, dass immer größere Gruppen in der Gesellschaft Ohnmachtsgefühle gegenüber denen „da oben“ entwickeln. Sie haben das Gefühl, sie können sich nicht einbringen, nichts mehr verändern, werden übersehen und überhört. Sie fühlen sich einfach wertlos. Es ist eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung aufzuzeigen, welche Rolle man als Bürger hat und wie man etwas verändern kann.

2020 ist wieder ein Jahr besonderer Jubiläen. Welche Bedeutung haben historische Gedenkjahre für die politische Bildung?
Stainer-Hämmerle: Das Wissen über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust oder auch die Volksabstimmung ist wichtig. Politische Bildung ist aber mehr als jüngste Zeitgeschichte. Es geht darum, dieses Wissen mit aktuellen Entwicklungen zu verbinden. Etwa die Frage des Umgangs mit Macht. Dann spricht man auch über das Miteinander von Macht, Öffentlichkeit, Bürgerbeteiligung etc.

Aber geht nicht viel verloren, wenn die Erinnerung verlorengeht?
Stainer-Hämmerle: Ja, aber wir müssen die Dinge auf einer emotionalen Ebene vermitteln. Dann bleiben sie auch hängen. Ich halte es für essenziell, dass man etwa Zeitzeugen begegnet. Bezüglich des Holocaust gibt es leider bald keine mehr. Aber es gibt ja andere Ereignisse, wie den Kommunismus etwa in der DDR oder den Fall der Berliner Mauer, das Ende des Eisernen Vorhanges gleich in unserer Nachbarschaft.

Da geht es dann um die Frage Diktatur – Freiheit?
Stainer-Hämmerle: Ich sage den jungen Leuten immer: Politik kann man nicht abschaffen. Man kann Demokratie abschaffen. Und wenn es keine Demokratie mehr gibt, gibt es auch keine Freiheit. Die Schwierigkeit ist aber: Wie soll man jemandem etwas erklären, das er überhaupt noch nie erlebt hat – nämlich die Unfreiheit.

Sie sind im Team der Veranstaltungsreihe zu 100 Jahre Volksabstimmung in der Hermagoras. Welche Bedeutung haben solche Veranstaltungen für die politische Bildung?
Stainer-Hämmerle: Ich bin sehr glücklich, dass sich so viele Schulen daran beteiligen. Es geht ganz zentral um Identität. Immerhin sind es großteils zweisprachige Klassen aus verschiedenen Ländern. Mit ihnen zu arbeiten und zu diskutieren, entwickelt eine eigene Dynamik. Es ist wichtig, junge Menschen dabei zu begleiten.

Interview: Gerald Heschl

Zur Person: Kathrin Stainer-Hämmerle wurde 1969 in Hohenems/Vorarlberg geboren. Sie studierte Politikwissenschaften und Rechtswissenschaften in Innsbruck. Nach Lehr- und Forschungsaufträgen an den Universitäten Graz, Krems und Klagenfurt erfolgte 2009 die Berufung auf eine Professur für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Kärnten. Als Obfrau der Interessengemeinschaft Politische Bildung (IGPB) setzt sie sich österreichweit für politische Bildung an Schulen ein.