Mit Gott Erfahrungen machen, indem wir uns auf ihn einlassen
Emmanuel Bauer OSB über Psychologie, Theologie und Orte der Gotteserfahrung. Ein Gespräch mit Georg Haab
Wenn Menschen nach dem Gott des Lebens suchen: Auch und gerade in der Heilung von Verletzungen wird seine Fürsorge spürbar.


„Psychotherapie und Seelsorge – ein Gegensatz?“ So lautet Ihr Vortrag in Tainach. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Gegensätze?
Bauer: Sowohl der Psychotherapie als auch der Seelsorge geht es letztlich um das gesamtmenschliche Wohl, um das Heil- und Ganzsein des Menschen. Allerdings mit je unterschiedlichem speziellen Fokus und unterschiedlichen Methoden. Insofern ist es wichtig, zwischen psychotherapeutischer Behandlung und pastoralem Dienst am Menschen zu unterscheiden und in der Praxis streng zu trennen, aber keinen Gegensatz zwischen diesen Disziplinen heraufzubeschwören. Die Psychotherapie ist eine professionelle Behandlung von psychisch bedingten oder mitbedingten Störungen unter gezielter Anwendung therapeutischer Methoden. In der Pastoral geht es um die Vermittlung der heilenden Botschaft des Evangeliums und die Stärkung des Bemühens, dem Leben durch eine lebendige Beziehung zu Gott eine neue Bedeutung und Dimension zu eröffnen.
„Schuld und Schuldgefühl“, Ihr zweiter Vortrag: Hat die Kirche nicht über Jahrhunderte Angst und Schuldgefühle in der Seelsorge als probate Mittel eingesetzt?
Bauer: Wie weit die Kirche bewusst mit Angst und Schuldgefühlen strategisch operiert hat, ist schwer zu sagen. Faktum ist, dass die Auslegung des Evangeliums und diverse strukturelle Faktoren wie Bußvorschriften, mangelnde Bildung des Kirchenvolkes und Machtmonopol kirchlicher Institutionen zu inneren und äußeren Abhängigkeitsverhältnissen geführt haben. Diese haben die Entwicklung von Angst und Schuldgefühlen gefördert.
Der französische Historiker Jean Delumeau hat dieses Phänomen und seine Auswirkungen in zwei eigenen Büchern analysiert.
Bauer: Delumeau, der diese Problematik vor allem aus kulturhistorischem und metalitätsgeschichtlichem Gesichtspunkt beleuchtet, bringt einen wichtigen Aspekt mit herein, der die Entstehung von Angst befeuerte: die Gefährdung des Menschen durch verschiedene natürliche und politische Bedrohungen, etwa die Pest, Hunger, Naturkatastrophen und Krieg. Da sich die Menschen diesen Gewalten mehr oder minder schutzlos ausgeliefert fühlten, reagierten sie mit Angst und suchten vielfach auch Schutz bei übernatürlichen Mächten. Die Kirche missbrauchte ihre Angst, indem sie das Auftreten dieser Bedrohungen mit moralischen Verfehlungen verknüpfte. Wie wir das ja auch heute noch von manchen fragwürdigen Theologen kennen, die Krankheiten oder Naturkatastrophen als Strafe Gottes darstellen.
Haben nicht Schuld und Schuldgefühl unser Gottesbild lange verdunkelt, ja sogar die Liturgie mitgeprägt?
Bauer: Die liturgischen Worte zum Beispiel „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht geschont ...“, die in diesem Sinne missverständlich sind, nähren sich aus dem Geist der sogenannten Satisfaktionstheologie, die meines Erachtens ein fatales Gottesbild vermittelte: Gott könne angesichts der Sünden der Menschen nur durch das größtmögliche Opfer, das Opfer seines Sohnes, besänftigt bzw. versöhnt werden. Gemäß der Botschaft Jesu ist Gott aber ein Gott der Liebe und des Lebens, der aus Liebe bis zum Äußersten zu gehen bereit ist.
Die seelsorgliche und die therapeutische Sicht darauf?
Bauer: Heute sieht man in der Theologie bzw. Pastoral die Kreuzeshingabe Jesu anders: Jesus geht, wie schon gesagt, seinen Weg der Liebe so radikal, dass er auch vor der letzten Konsequenz nicht kehrt macht. Aus therapeutischer Sicht ist die Theorie des „Sündenbockmechanismus“ bedenkenswert: Übersteigt die durch das Imitations- und Rivalitätsverhalten der Menschen ausgelöste gegenseitige Gewalt ein gewisses Potential, so richtet sich die Aggression gemeinsam gegen ein an sich unschuldiges, aber schuldig empfundenes Individuum, das geopfert wird. Dieser Vorgang „heilt“ die Gemeinschaft (zumindest für eine gewisse Zeit) von der Gewaltneigung.
Wir können von Gott nur in unserer Sprache reden. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir selbst mit Gott Erfahrung machen.
Wo ist der befreiende Gott der Väter Israels, der Propheten, der Gott Jesu, der „Gott mit uns“? Wie erleben wir ihn in unserem Leben?
Bauer: Wir können von Gott immer nur in unserer Sprache, d. h. in menschlichen Bildern, reden. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir selbst mit Gott Erfahrung machen. Das geschieht, indem wir uns konkret im eigenen Leben auf die unverfügbare und unberechenbare Wirklichkeit Gottes einlassen, der sich je neu und anders zeigen kann. Das Zeugnis von Menschen, die Gott schon erfahren haben, wie etwa die alten Propheten, kann uns dabei Mut und Orientierung geben. In unserer Welt zeigt sich immer öfter, dass Gott an Orten zu entdecken ist, die nicht zu den klassischen Formen der Gottesbegegnung zählen.
Ein konkretes Beispiel für eine lebendige und lebenspendende Gottesbeziehung?
Bauer: Ein Bild dafür sind vielleicht die Brüder in Jesu Erzählung vom barmherzigen Vater: Der jüngere Sohn kommt erst in der Ferne und in einer unorthodoxen Lebensgestalt zu sich und entdeckt, was ihm wirklich wichtig ist im Leben. Der ältere Sohn ist zwar immer zu Hause, kann aber die Beziehung zum Vater nicht in ihrer beglückenden Tiefe vollziehen und erleben, ehe ihm das barmherzige Verhalten des Vaters die Augen öffnet. Auch heute gibt es gar nicht so wenige junge Menschen, die gegen den Mainstream auf dem Weg persönlicher Spiritualität tieferen Sinn im Leben suchen.
Was bedeutet das für Seelsorge und geistliche Begleitung?
Bauer: Für Priester und alle Christen, die andere Menschen begleiten, wäre es eine große Hilfe und Bereicherung, die grundsätzlichen psychologischen Dynamiken, die das Leben und die Persönlichkeit des Menschen prägen und auch stören können, zu kennen. Entscheidend dafür ist die Selbsterfahrung, in der man sich selbst, wie und warum man so ist, besser verstehen lernt.
70 Jahre nach der Zwangsaussiedlung slowenischer Familien, Traumata durch Nazi- und Partisanenterror: Wie können Seelsorge und Psychologie die Aufarbeitung der Vergangenheit unterstützen? Welche konkreten Schritte könnten Betroffenen helfen?
Bauer: Das ist ein riesiges Thema, zu dem ein, zwei Sätze viel zu kurz greifen. Vielleicht nur so viel: Eine seriöse Kultur des Er-Innerns, ehrliche Schuldannahme, Wiedergutmachung (soweit möglich), offen ausgesprochene Versöhnung und Sich-selbst-Verzeihen sind wohl wichtige Elemente für eine gute Aufarbeitung. Sollten psychische Traumatisierungen vorliegen, ist eine professionelle Traumatherapie zu empfehlen.
Was ist Ihnen persönlich besonders wichtig?
Bauer: Christen meinen bisweilen, psychische Probleme könnten oder sollten vor allem durch Gebet geheilt werden, oder haben die Sorge, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei ein Zeichen mangelnden Glaubens. Dabei übersehen sie, dass Gottes Fürsorge gerade auch durch einen gelingenden psychotherapeutischen Prozess spürbar wird.
Zur Person:
P. Emmanuel Bauer, Benediktiner, arbeitet als Psychotherapeut und ist stellvertretender Leiter des Fachbereiches Philosophie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Salzburg.
Er hält die Einstiegsreferate bei der Sommertagung des Katholischen Akademiker/innenverbandes Österreich im Bildungshaus Sodalitas in Tainach (22. - 27. Juli), die heuer unter dem Thema „Wer sorgt für die Seele? Wie Seelsorge und Psychologie einander berühren“ religiösen wie psychologischen Auffassungen und Rollen von „Seelsorge“ nachgeht.