Menschenwürde ist die Würde, die wir einem Menschen zugestehen
Der emeritierte Wiener Moraltheologe im "Sonntag"-Interview
An der Hand eines Menschen oder durch die Hand eines Menschen sterben: Am 3. März ist es ein Jahr her, dass alle sechs Parlamentsparteien einstimmig ihre Empfehlungen für die Wahrung der „Würde am Ende des Lebens“ verabschiedet haben. Der Wiener Moraltheologe über Interessenskonflikte an der offenen Baustelle.


Die Parlamentarische Enquête-Kommission ließ vor fast einem Jahr mit einem einstimmigen Ergebnis aufhorchen. Ist das nicht eine kleine Sensation?
Virt: Eine parlamentarische Enquête dient der Meinungsbildung der gewählten Abgeordneten, um sich auf dem Stand der Wissenschaft zu halten und diese Erkenntnisse in politische Perspektiven zu übersetzen. Zur Bioethik wurden 500 Experten ins Parlament eingeladen. Sie kamen aus den verschiedensten Bereichen, es waren sehr viele Parlamentarier da, und es war ein äußerst konstruktiver, sachlicher Dialog über fünf Tage; der Plenarsaal war übervoll. Herausgekommen ist ein Konsens aller sechs Parteien, in 51 Punkten liegt der Bericht vor.
Welches sind die Kernpunkte der Empfehlungen?
Virt: Das Wichtigste ist, dass man die Palliativ-Versorgung und das Hospiz-Wesen wirklich finanzieren will. Wenn man Bedarf und Realität vergleicht, sind jetzt erst etwa 50 Prozent abgedeckt. Aber im Parlament ist der politische Wille eindeutig kundgetan worden, eine flächendeckende Palliativ- und Hospiz-Versorgung in Österreich zu errichten. Und dabei kostet es ja gar nicht so viel, es ist weit weniger als ein Prozent des Gesundheitsbudgets.
Die Ethikkommission, die den Kanzler berät, ist zu anderen Ergebnissen gekommen. Wie ist das möglich?
Virt: Die Bioethik-Kommission kam ja zu keinem einhelligen Ergebnis. Ein Mitglied war für die Tötung auf Verlangen, der größere Teil war dafür, dass man in Österreich die Beihilfe zum Suizid straffrei stellt, etliche haben sich enthalten, sechs Mitglieder waren klar dafür, dass man die bewährte Gesetzeslage beibehält und sie wirklich umsetzt. Zudem ergibt sich ein politischer Einfluss aus der Tatsache, dass die Kommission durch den Kanzler und seine Gremien zusammengestellt wird. Die Europäische Ethikberatergruppe in Brüssel, der ich ebenfalls angehöre – das ist die Ethik-Kommission der Europäischen Kommission –, ist unabhängig und ausgewogen: Dort sind fünf Ethiker, fünf Juristen und fünf Naturwissenschaftler. Das ist ein anderes Arbeiten.
Täuscht das Gefühl, dass in der Sache wenig weitergeht?
Virt: Es ist eine Frage der Balancen, was am dringendsten ist. Einen Flüchtlingskoordinator haben wir mittlerweile; die Enquête hat gefordert, auch einen Hospiz-Koordinator einzusetzen, der die Sache vorantreibt, dem Parlament regelmäßig Bericht erstattet und darauf schaut, dass die Beschlüsse tatsächlich durchgeführt werden. Den gibt es bis heute nicht.
Den Flüchtlingskoordinator gibt es, das Problem scheint dringender. Ist der Tod so weit weg, dass wir ihn lieber verdrängen?
Virt: Es ist sehr menschlich, dass man die Dinge, mit denen man nicht unmittelbar konfrontiert ist, gerne auf die lange Bank schiebt. Aber jeder muss wissen: Früher oder später wird es ihn selbst betreffen, dass er menschenwürdig sterben kann und dabei die ausreichende Versorgung und Begleitung durch Palliativ-Versorgung und Schmerzlinderung hat. Wobei die Weltgesundheitsorganisation ja sehr differenziert sagt: Palliativmedizin heißt Linderung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Leiden, so dass die Lebensqualität bis zum Ende gewährleistet ist.
Palliativmedizin heißt Linderung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Leiden, so dass die Lebensqualität bis zum Ende gewährleistet ist.
Wie würden Sie Menschenwürde am Ende des Lebens beschreiben?
Virt: Schmerzlosigkeit allein ist zu kurz gegriffen. Menschenwürde muss man wieder „zurückübersetzen“, das heißt, das Hauptwort ins Zeitwort: den Menschen würdigen. Dass ich jeden Menschen als Zweck an sich und niemals bloß als Mittel zum Zweck würdige. Es bleibt also immer der Mensch, die Person, die eine unveräußerliche Würde hat und die es in der Rechtsgemeinschaft zu schützen gilt. Dahinter stehen ja die leidvollen Prozesse unserer abendländischen Kriegs- und Konfliktgeschichte, entsetzliche Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde, und so haben wir aus dieser leidvollen Geschichte gelernt, doch klarer zu sehen, was Menschenwürde und darauf aufbauend Menschenrechte bedeuten. Die christliche Wurzel ist nicht die einzige, aber meines Erachtens klar die tiefste: dass nämlich jeder Mensch, wirklich jeder, der mir begegnet, Gottes Ebenbild ist. Angefangen damit, dass ich mich selber als Gottes Ebenbild verstehe. Das gibt dann nochmals eine andere Motivation, die Menschenwürde tatsächlich zu respektieren. Ich brauche da nicht nur ein intellektuelles Wissen, sondern auch die Motivation dazu, die aus dem Glauben, aus den Religionen kommt.
Im Alltag wird das gerne verkürzt gesehen: Menschen, deren Leistung nachlässt, klagen oft, dass sie immer weniger wert sind.
Virt: Es ist ein fundamentaler Unterschied zwischen Wert und Würde. Werte kann man auf- und abwerten. Würde heißt: Hier ist ein Mensch, er wird um seiner selbst willen gesehen, nicht als Mittel, nicht, weil er dieses oder jenes leisten kann oder diese und jene Funktionen erfüllen kann. Einfach Mensch sein: Damit ist die Würde gegeben, die ist unverlierbar. Man kann sie nicht verlieren, aber man kann sie leider verletzen.
Die Niederlande, Belgien und die Schweiz sind Vorreiter der aktiven Sterbehilfe. Man argu-mentiert das dort mit Menschenwürde und Selbstbestimmung.
Virt: Selbstverständlich müssen wir die Selbstbestimmung schützen, sie gehört zur Menschenwürde, aber sie spielt sich niemals im luftleeren Raum ab. Es gibt keine abstrakte Autonomie, sondern immer nur eine ganz konkrete, unter ganz konkreten Umständen, und dort gilt es genau hinzuschauen. Sie können ja nicht kontrollieren, unter welchem Druck der Wunsch zustande kommt: „Ich will nicht mehr leben, der Arzt soll mir die Spritze geben.“ Wir haben für den Europarat sehr viele Gründe analysiert, und einer der Hauptgründe ist, dass Kranken, Menschen mit Behinderung, Sterbenden, Dementen ohne große Worte, einfach durch Gesten, signalisiert wird: Du fällst uns zur Last. Und dann sagt der Mensch: Das will ich nicht, ich gebe nach.
Die Würde, die jedem Menschen als Gottes Ebenbild zukommt, dem kranken, dem behinderten Menschen ebenso wie dem in voller Lebenskraft und auch dem flüchtenden Menschen ...
Virt: Die Nächstenliebe, das Grundgebot des Alten wie des Neuen Testamentes, gehört zum jüdisch-christlichen Menschenbild, ist die Grundeinstellung, den Mitmenschen genau so zu lieben und zu würdigen wie mich selbst und nicht ein Vorurteil zu pflegen: Der andere ist weniger als ich. Natürlich kann ich nicht allen Menschen helfen. Wer allen gleichzeitig helfen will, tut gar nichts. Wir brauchen hier klare Vorzugsregeln, und es ist die Aufgabe der Ethik, zu sagen: Wer ist denn mein Nächster? Das Lukas-Evangelium sagt: Der, der in Not ist und der jetzt da ist.
Interview: Georg Haab
Prof. Dr. Günter Virt, geb. 1940. Studium der Pharmazie, der Theologie und der Psychologie in Wien und Innsbruck. Seelsorgliche Tätigkeit als Kaplan und Studentenseelsorger. 1970 Habilitation in Tübingen, danach Professor für Moraltheologie in Paderborn, Salzburg und Wien, seit 2006 emeritiert. 2001-2012 Mitglied der Bioethik beim Bundeskanzleramt und seit 2001 Mitglied der European Group on Ethics in Science and New Technologies in Brüssel. Für seine Leistungen in ethischer Forschung und Politikberatung wurde Virt im Juni 2010 vom Bundespräsidenten mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse ausgezeichnet.