Lesen erweitert unser Verständnis von der Welt
Die Autorin Barbara Frischmuth ist eine Grenzgängerin. Ein Gespräch mit Gerald Heschl zu ihrem 70. Geburtstag.

Sie haben in einer Umbruch- und Aufbruchzeit Ihre schriftstellerische Laufbahn begonnen. Wenn Sie heute an diesen Anfang zurückblicken: Sind Sie froh, dass Sie nicht im modernen Literatur-Betrieb starten müssen?
Frischmuth: Absolut. Damals ist wirklich etwas Neues entstanden. Die Leute waren neugierig. Wenn ein neuer Autor aufgetaucht ist, wollten sie wissen, was auf sie zukommt. Wenn heute ein junger Autor anfängt, muss er wahnsinnig viel PR machen, damit die Leute überhaupt zu einer Lesung gehen.
Sie gehören ja auch zu den Gründern des Forum Stadtpark in Graz. Wie wichtig war so ein Zusammenschluss?
Frischmuth: Enorm wichtig! Ohne den Schutz der Gruppe hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft. Die Menschen etwa in Graz waren ja zum Großteil noch extrem konservativ. Da bedurfte es dieses Zusammenhalts.
Wie kann man sich das heute vorstellen?
Frischmuth: Großteils haben wir uns bei der Lektüre gegenseitig unterstützt und Bücher geliehen. Es war ja auch eine Zeit, in der Literatur erst entdeckt, neu gelesen wurde. Jeder hat dem anderen gesagt, was man lesen sollte. Das war ein wichtiger Informationsfluss.
Der Weg von Ihrer Heimat Altaussee, mitten in den Bergen, in die Höhen der Literatur scheint sehr weit zu sein ...
Frischmuth: Altaussee war ja immer ein Tourismusort, und ich bin in einem Hotel aufgewachsen. Da hat man schon auch andere, sehr interessante Leute getroffen. Außerdem hatte ich eine Tante, die Schriftstellerin war. Also habe ich gewusst, dass man das machen kann. So gesehen war Altaussee ja nicht irgendein Dorf. Aber sozusagen die Grenze musste man einmal geografisch überwinden.
Ihr erstes Buch war „Die Klosterschule“. Wie weit hat Sie die Zeit in der Klosterschule später geprägt?
Frischmuth: Man befand sich in einer „geschlossenen Sprache“, die auf alles eine Antwort wusste. Bei mir hat das dann den gegenteiligen Effekt und viel Unbehagen hervorgerufen. Ich muss aber sagen, dass nicht alles negativ war. Man hat mir den Umgang mit Zeit beigebracht. Der Tag war genauestens eingeteilt. Dadurch hat man ein Gefühl für Zeit bekommen und auch eine gewisse Effektivität. Eine gewisse Disziplinierung ist mir später zugute gekommen – so sehr ich mich auch damals dagegen aufgelehnt habe. Vor allem als alleinerziehende Mutter hat mir das sehr geholfen.
Ihr Weg führte von Altaussee nach Graz und dann weiter in die Türkei. Wie weit beeinflusst der Orient Ihr Werk?
Frischmuth: In der Türkei hatte ich erst einmal einen Kulturschock. Man lernt sich dort aber auch anders sehen, und die Sprache war wichtig! So erkennt man die blinden Flecken unserer Sprache, was wir nicht unmittelbar ausdrücken können. Es ist ganz wichtig, die eigene Sprache auch von außen sehen zu lernen.
Das eigene Fremdsein als Quelle der Inspiration?
Frischmuth: Ja, dass man sich ständig mit dem Anderen konfrontiert, den Blickwinkel verschiebt, wird zu einer Kulturtechnik. Ich habe das ständige Bedürfnis, mich und das Eigene von außen sehen zu können.
Sind unter diesem Blickwinkel auch Ihre jüngsten Bücher, in denen Sie sich mit Pflanzen und Tieren beschäftigen, zu verstehen?
Frischmuth: Ja, unbedingt! Die Gartenbücher gehören genauso zu meinem Werk. Es folgt alles dieser Suche nach dem verschobenen Blickwinkel. Da findet man die meisten blinden Flecken. Denn was mir gar nicht liegt, wäre eine Nabelschau, sich nur mit mir selbst beschäftigen.
Quasi eine Gegenbewegung zum „Einigeln“ in Altaussee?
Frischmuth: Für mich war es immer wichtig, einen Gegenpol zu haben. Das ist eben Istanbul oder Kairo – und dann wieder Altaussee. Genau das ist die Verschiebung des Blickwinkels.
Einen besonderen Blickwinkel erfordern ja auch Ihre Kinderbücher.
Frischmuth: Diese Welt des Kinderbuches hat mir immer sehr imponiert. Dieses Spielerische, auch Sprachspielerische hat mich sehr beeindruckt. Man bedient damit das Kind in sich.
Als Sie diese Bücher schrieben, war Lesen noch „in“. Wie bewerten Sie Ergebnisse der Pisa-Tests, die österreichischen Kindern eklatante Leseschwächen attestieren?
Frischmuth: Ich kenne mich mit diesen Tests zu wenig aus. Aber es gibt eindeutig Leseschwächen, und das ist schade! Lesen erweitert den Horizont und bereichert. Ich finde, es gehört als Kulturtechnik dazu, um das Verständnis für unsere Welt zu erweitern. Das sind Wahrnehmungsstrategien, die man bitte nicht verlernen soll. Uns ist ja so vieles mitgegeben, das man nicht vernachlässigen soll.
Sie haben mehr als 50 Bücher verfasst. Gibt es darunter ein Buch, das Sie als Ihr absolutes Lieblingsbuch bezeichnen würden?
Frischmuth: Das ist für mich meistens das letzte. Aber ich muss schon sagen, dass ein Buch für mich ganz wichtig ist, das interessanterweise nach einem Verriss in der FAZ gänzlich vom Markt verschwand. Es hieß: Macht nix oder der Lauf, den die Welt nahm. Es ist eine Mischung aus Kinder- und Erwachsenenbuch. Ich habe es zu Beginn der Balkankriege geschrieben und dabei versucht, das Phänomen Krieg aus der Augenhöhe von Kindern zu beschreiben. Offenbar war das für die Erwachsenen zu spielerisch und für die Kinder zu schwierig. Aber so lange ich schreiben kann, bilde ich mir ein, dass das nächste Buch ganz anders, ein neuer Zugang zur Literatur und zur Erfassung der Wirklichkeit sein wird. Ich halte mich da bewusst ganz offen.
In Ihren Büchern geht es immer wieder um gesellschaftliche Fragen. Wie moralisch kann bzw. soll Literatur sein?
Frischmuth: Moral ist etwas, das kulturell unterschiedlich gehandhabt wird. Gerade in der Literatur ist Moral sehr schwer zu bedienen. Ich würde mich eher auf Ethik berufen – die Charta der Menschenrechte. Sie richtet sich ohne Voraussetzung an den Menschen. Daher kann man sich daran halten, und sie spiegelt eine Haltung wieder.
Kann Literatur die Welt ein Stück weit verbessern?
Frischmuth: Das glaube ich nicht. Aber sie kann das Denken erweitern. Was Literatur ganz sicher bewirkt, ist eine Aufhebung der Fremdheit. Wenn ich das Buch eines türkischen oder iranischen Autors lese, ist mir nach zehn Seiten die Welt, in der das Buch spielt, nicht mehr fremd.
Verraten Sie uns schon, was Ihr nächstes Buch sein wird?
Frischmuth: Ich arbeite an einem Roman, der wahrscheinlich im nächsten Herbst erscheinen wird. Den Titel weiß ich allerdings selbst noch nicht. Jedenfalls besteht er aus drei Teilen, und es geht um drei Frauen. Er handelt von der Spannung zwischen dem Ausseerland und der Türkei.