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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Können wir aus der Urkatastrophe lernen?

Manfried Rauchensteiner im Gespräch mit Gerald Heschl zu "100 Jahre Erster Weltkrieg"

Der renommierteste österreichische Militärhistoriker über den Ersten Weltkrieg als Zeitenwende, die Folgen des Krieges und ob man aus der Geschichte lernen kann.

Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner im SONNTAG-Gespräch über den Ersten Weltkrieg als Zeitenwende, die Folgen des Krieges und ob man aus der Geschichte lernen kann. (© Foto: privat / Collage - KH Kronawetter)
Der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner im SONNTAG-Gespräch über den Ersten Weltkrieg als Zeitenwende, die Folgen des Krieges und ob man aus der Geschichte lernen kann. (© Foto: privat / Collage - KH Kronawetter)
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Am 24. November sprechen Sie an der Klagenfurter Universität über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Hat dieses Jahr 1914 eine Zeitenwende markiert?

Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg ist zweifelsfrei eine Zeitenwende. Die Gründe für diesen Krieg reichen aber weit ins vorangegangene Jahrhundert zurück. Ich halte allerdings die oft zitierten technischen Entwicklungen für weniger entscheidend. Viel stärker beeinflussten die politischen Veränderungen den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. Entwicklungen, die wir aus heutiger Sicht als entsetzlich ansehen müssen. 

Große Kriege gab es schon zuvor. Der Dreißigjährige Krieg verwüstete weite Teile Deutschlands. Was unterscheidet den Ersten Weltkrieg von den vorangegangenen?

Rauchensteiner: Es ist dies der erste unbegrenzte Krieg. Zu Recht ist er als Weltkrieg in die Geschichte eingegangen. Erstmals wurden alle Kontinente von diesem Krieg erfasst. Er nimmt sowohl in der räumlichen wie in der zeitlichen Dimension eine bis dahin nie dagewesene Position ein. Der Zweite Weltkrieg setzt das fort. 

Ist der Erste Weltkrieg also tatsächlich diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“?

Rauchensteiner: Das ist natürlich eine Frage der Interpretation. Von welcher Seite sieht man diese „Urkatastrophe“? Wenn man von der Ländergeschichte ausgeht und die Position von Polen, Jugoslawien oder auch Italien einnimmt, so ist das weniger eine Urkatastrophe, sondern die eigentliche Nationswerdung. Wenn man andere Aspekte hernimmt, etwa die enormen Ausmaße an Unmenschlichkeit, kann man diesen Begriff wohl heranziehen. Es ergeben sich durchaus Parallelen zum Zweiten Weltkrieg. Wir haben auch im Ersten Weltkrieg Geiselnahmen, Massenerschießungen, Willkür gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten, Massendeportationen etc. All das findet parallel zum militärischen Geschehen statt.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirchen in dieser Zeit? Einerseits zog man für Gott, Kaiser und Vaterland in den Krieg. Andererseits rief Papst Benedikt XV. gegen diese Kriegsgräuel auf …

Rauchensteiner: Es ist schwer, die Rolle der Kirchen zu beschreiben. Es ist ein heiliger Krieg des Islam, alle christlichen Konfessionen haben sich aufgefordert gesehen, den Waffengang zu rechtfertigen. Er wurde vielfach im Sinne des hl. Augustinus als gerechten Krieg qualifiziert. Aber das macht die Sache nicht einfacher. Wenn wir auf Österreich-Ungarn schauen, so sind gerade von den höchsten Kirchenführern drastische Worte verwendet worden, um den „gerechten Krieg“ als notwendig zu charakterisieren. Der Heilige Stuhl sah dies anders. Aber man muss sagen, dass dies faktisch unwirksam war. Die Versuche, Vernunft einkehren zu lassen oder einen Schritt in Richtung Frieden zu setzen, blieben ergebnislos. 

Waren nicht angesichts der Kriegseuphorie alle vernünftigen Stimmen ohnehin zum Scheitern verurteilt?

Rauchensteiner: Euphorie hat es zweifellos gegeben, man muss aber schon fragen, woher sie gekommen ist. Ich sehe den Kriegsbeginn 1914 auch hier differenziert. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir uns 1914 in einer Zeit befinden, in der mit allem experimentiert wurde. Man ist in den Naturwissenschaften in Bereiche vorgedrungen, die bis dahin undenkbar waren. Das reicht bis Sigmund Freud, der das Seelenleben auf den Seziertisch gebracht hat. Krieg wird in diesem Umfeld als etwas gesehen, das ins Zeitalter des Experimentierens gehört. So experimentiert man mit einer völlig anderen Art der Auseinandersetzung, die alles bisherige in den Schatten stellt.

Spielt die lange Friedenszeit zuvor da eine Rolle? Hat man den Krieg verklärt?

Rauchensteiner: Wir dürfen auch hier die österreichische Sicht nicht verallgemeinern. Kriege haben schon das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts beherrscht. Das begann mit dem Burenkrieg und setzte sich mit dem russisch-japanischen Krieg fort, es gab Kriege im Nahen Osten, dann 1912/13 zwei Balkankriege. 1914 dann ein weiterer Krieg von unabsehbarer Dimension.

Ist man quasi in einen Weltkrieg hineingeschlittert?

Rauchensteiner: Österreich wollte sicher keinen Weltkrieg entfachen, sondern einen begrenzten Krieg gegen Serbien führen. Man hat aber vieles übersehen. Obwohl sich Kaiser Franz Josef sicher bewusst war, dass ein Krieg gegen Serbien Russland auf den Plan ruft.

100 Jahre danach wird die Schuldfrage noch immer sehr emotional geführt. Wie sehen Sie das?

Rauchensteiner: Die Schulddiskussion wird uns nicht weiterbringen. Man hat bei den Pariser Friedensverträgen den Besiegten eben die ganze Kriegsschuld aufgehalst. Das war zu akzeptieren. Wenn man das Wort Schuld durch Verantwortung ersetzt, dann tragen sicher viele eine Verantwortung. In hohem Maße jedoch die Habsburger Monarchie. 

Die Folgen des Krieges beschäftigen uns bis heute. Gerade hier in Kärnten: die Volksabstimmung und in weiterer Folge die Volksgruppenfrage. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungslinien 1914 – 2014?

Rauchensteiner: Ich denke, man sollte die Folgen nicht auf ein lokales Geschehen begrenzen, sondern das Grundsätzliche sehen. Bei großen gewaltsamen Auseinandersetzungen wie Kriegen ist das Verschieben von Grenzen unvermeidlich. Das beobachtet man quer durch die Menschheitsgeschichte. Dabei wird selten auf das Bedürfnis einzelner Gruppen Rücksicht genommen. Ein Unterschied zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg besteht jedoch darin, dass es nach dem Ersten Weltkrieg kaum zu gewaltsamen Vertreibungen gekommen ist. Man hat gehandelt wie noch im 19. Jahrhundert: Es haben sich Grenzen verschoben und dabei ließ man es bewenden. Dass es bei Grenzverschiebungen zu menschlichem Leid kommt, ist leider unvermeidlich. Das sieht man ja gerade auch am Beispiel Kärnten.

Vielfach wurden heuer Vergleiche zwischen 1914 und 2014 hergestellt. Sie sehen das skeptischer als andere?

Rauchensteiner: In meinen Augen ist es der Versuch, Vergleiche herzustellen, damit man Zuordnungen vornehmen kann. Das ist aber wenig sinnvoll, weil sich in der Geschichte nichts wiederholt. Egal, wo man hinschaut. Wirkliche Parallelen und Wiederholungen gibt es nicht. 

Wenn es keine historischen Parallelen gibt: Kann man dann überhaupt aus der Geschichte lernen?

Rauchensteiner: Naja – man sollte auf jeden Fall versuchen, die Geschichte nicht zu wiederholen.

 

Zur Person:

Univ.-Prof. Dr. Manfried Rauchensteiner, geb. 25. Juli 1942 in Villach, studierte in Wien Geschichtswissenschaften und Germanistik. Seit 1966 arbeitete er im Heeresgeschichtlichen Museum, dessen Direktor er von 1992 bis 2005 war. Lehrtätigkeiten an der Universität Wien, der Diplomatischen Akademie Wien und an der Landesverteidigungsakademie. Zahlreiche Publikationen, u. a. zum Ersten Weltkrieg.

Veranstaltungstipp: 1914 - 2014: Klagenfurter Stadtgespräche des Katholischen Akademikerverbandes und der Karl-Popper-Gesellschaft mit Univ.-Prof. Manfried Rauchensteiner und Univ.-Prof. Reinhard Neck
Zeit: Montag, 24. November 2014, 18 Uhr 
Ort: Universität Klagenfurt, Hörsaal C