Johannes und Maria als Schlüssel zum Verstehen der Weihnachtsbotschaft
Die emeritierte Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz im Sonntags-Gespräch mit Georg Haab
Die emeritierte Religionsphilosophin zu Gerechtigkeit und Proexistenz als Schlüsselbegriffe, die uns durch den Advent begleiten und auf das Kommen des Herrn vorbereiten


Johannes der Täufer spielt im Advent eine große Rolle. Er ist der, der Gerechtigkeit wiederherstellt, bevor der Messias kommen kann.
Gerl-Falkovitz: Als Philosophin gehe ich auch an theologische Fragen zuerst von der Philosophie heran. Bei „Gerechtigkeit“ denke ich an Jürgen Habermas, einen der bekanntesten deutschen Philosophen. Einen Monat nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center 2001 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Bei seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche brachte er einen Gedanken, den niemand von ihm erwartet hatte: Die Opfer, die verbrannt und verschwunden sind, könnten niemals mit Gerechtigkeit rechnen. Haben sie also einfach Pech gehabt? „Die verlorene Hoffnung auf Auferstehung erlaubt uns nicht mehr, von Gerechtigkeit zu reden“, sagte er sinngemäß und erinnerte daran, dass gerade die christliche Tradition mit dem Gedanken der Auferstehung Gerechtigkeit für alle vorsieht.
Sie meinen, dass der Jenseits-Gedanke sozusagen ein Korrektiv zu irdischem Allmachtsstreben ist?
Gerl-Falkovitz: Ja, sogar noch mehr. Nehmen Sie einmal den Gedanken der Wiedergeburt, mit dem heute immer mehr Menschen liebäugeln: Wiedergeburt beinhaltet doch auch Wiedertod! Was bei uns positiv verdreht wird, ist in Indien, wo es herkommt, etwas absolut Belastendes: Immer wieder falle ich in Schuld, arbeite mich vielleicht ein wenig hoch, um wieder von vorne zu beginnen. Wie befreiend ist dagegen unser Gedanke, dass die Geschichte ein großes Finale hat, das alles wiederherstellt. In dem alle zu kurz Gekommenen, alle zu Boden Getretenen, auch die, denen im Leben vieles missglückt ist, aufgerichtet werden. Gericht – das Jüngste Gericht – heißt ja nicht verurteilen, sondern aufrichten.
Die Einkommensschere geht auseinander, wer mehr hat, will noch mehr – werden trotzdem alle gleich aufgerichtet?
Gerl-Falkovitz: Ich glaube, dass wir naturwüchsige Egoisten sind. Franz von Sales sagte klug: „Unsere Selbstsucht stirbt eine halbe Stunde nach unserem Tod.“ Egoismus verkrampft sich in sich selber. Augustinus spricht von der „curvatio in se ipsum“, von der Kurve auf sich selber. Sünde ist, dass man sich auf sich selbst zurückbiegt. Ist es nicht ein schöner Gedanke, dass auch das aufgerichtet wird? Da wird natürlich das Rückgrat krachen, und es wird peinlich weh tun ...
Johannes der Täufer und Gerechtigkeit: Was bedeutet das für uns?
Gerl-Falkovitz: Es bedeutet, dass auch wir soziale Gerechtigkeit herstellen und erhalten müssen. Wir dürfen uns freuen, dass da in Mitteleuropa sehr viel gelungen ist, denken Sie nur an Kolping und die Katholische Soziallehre! Es ist bei uns heute selbstverständlich, dass Politik sozial agieren muss. Es gibt auch ein beharrliches Nachfragen: Was verdienen Politiker, Bischöfe, Manager? Und es kommt extrem schlecht an, wenn das über ein bestimmtes Maß hinausgeht. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verhindert vieles. Der Gedanke des Advent ist aber noch weiter nach vorne gerichtet. Advent heißt ja „Kommen“. Er sagt, dass jemand kommt und uns Erlösung bringt, dass auch ich von meinem Egoismus erlöst werde. Das ist etwas, was mich heute schon bestärkt, kräftigt und aufrichtet. Ist das nicht eine großartige Botschaft?
Advent sagt, dass jemand kommt und uns Erlösung bringt. ist das nicht eine großartige Botschaft?
Neben Johannes begleitet uns eine zweite große Gestalt auf Weihnachten hin: Maria. Wofür steht sie?
Gerl-Falkovitz: Maria steht ganz unmittelbar für die Mutterschaft: ein Thema, das in unserer öffentlichen Wahrnehmung nicht vorkommt, obwohl unsere demografischen Kurven nach unten gehen. Was ist Mutterschaft, welche Haltung setzt sie voraus? Mutterschaft bedeutet, sich ganz für ein anderes Leben zur Verfügung zu stellen. Das Kind nimmt ja Substanz von seiner Mutter. Es gibt sonst kein Dasein, das in ähnlicher Weise von einem anderen Lebewesen zehrt, selbst nach der Geburt, und das Kind braucht das ja auch. Es gibt ein Bild von meiner Mutter und mir, wo ich strahlend, gesund und proper auf ihrem Arm sitze, 1946, und meiner Mutter fehlen sämtliche Zähne, weil im Krieg eine Mangelsituation war und ich ihr ungefragt und erst einmal unbedankt so vieles entzogen habe. Thomas Mann beschreibt das großartig in „Joseph und seine Brüder“, die Schwangerschaft von Rachel, die bei der Geburt stirbt. Sie setzt Leib und Leben ein – bzw. es wird von ihr gefordert. Maria erinnert uns daran: Wie intensiv ist menschliches Leben darauf angewiesen, dass ein anderer mich zulässt, hereinlässt, mir seine Nachtruhe opfert und mir sein Leben zur Verfügung stellt? Noch dichter gesagt: dass unser Leben ganz auf der Proexistenz anderer beruht!
Ein Gegenentwurf zum Individualismus und zur Konsumgesellschaft?
Gerl-Falkovitz: Das muss man sagen. In dem Augenblick, wo wir nur für uns selbst schaffen, hört die Kette des Lebens auf. Leben braucht anderes Leben, um zu leben. In diesem Sinne geht es bei Maria nicht um eine bloß biologische Mutterschaft. Das wäre Minimalismus. Ein Leben steht für das andere. Meine Übertragung auf den Advent: An Maria zeigt sich, dass Lebendig-Sein heißt: dem anderen Raum geben. Mutterschaft in diesem Sinne ist etwas grundlegend Menschliches. Wir wären alle nicht da, wenn nicht andere uns Raum gegeben hätten.
Auch Papst Franziskus erinnert in einem Interview daran, dass es der Kirche vielerorts an „Fruchtbarkeit“ fehlt. Meint er das Gleiche?
Gerl-Falkovitz: Das ist gut möglich. Die Kirche hat sehr viel mehr in ihrem Schatz, als wir wahrnehmen. Ich denke an Maria, aber auch an die Märtyrer des 20. Jahrhunderts; Menschen, die „zwecklos“ ihr Leben in die Schanze werfen, ohne dass es sich für sie auszahlt. Neulich gingen wir in Berlin über den Dorotheenstädter Friedhof. Dort ist ein Massengrab, denn daneben war ein Gefängnis der Gestapo; viele Gefangenen erhielten im April 1945, als die Alliierten kamen, einfach einen Genickschuss und wurden dann dort eingescharrt. Der Bruder von Dietrich Bonhoeffer war auch dabei. Diese Menschen haben nicht freiwillig ihr Leben gegeben. Aber viele haben, als sie sahen, dass es zu Ende ging, sich dazu entschlossen, ihr Leben dennoch religiös zum Opfer zu vertiefen. Edith Stein hat ein Gedicht abgeschrieben, das dann ihr selber unterlegt wurde: „Bin in deinem Mosaik ein Stein, wirst mich an die rechte Stelle legen, deinen Händen bette ich mich ein.“ Es gibt viel mehr Menschen, die Gott ihr Leben geschenkt haben, als wir überhaupt wissen.
Auf Weihnachten zugehen mit Maria: sich in dieser Proexistenz üben?
Gerl-Falkovitz: Maria hat eine Offenheit gelebt, die sie selbst so gar nicht im Vorhinein ahnen konnte. Jesus hat seine Mutter ja auch in vielem herausgefordert, wie die Evangelien berichten. Bei der Hochzeit von Kana z. B.: „Frau, was willst du von mir?“ Aber sie resigniert nicht, sondern ist bei jeder nächsten Station wieder dabei. Sie begreift die Herausforderung, wo sie wieder einen neuen Abschnitt bewältigen muss, und sie bewältigt ihn wieder – eine Frau, die sich beständig öffnet und weitet, bis zum Pfingstmorgen. Sie folgt immer diesen Hinweisen auf etwas noch Größeres; das ist eine unglaubliche menschliche Haltung. Von daher ist sie, meine ich, viel mehr als die biologische Mutter Jesu; sie ist die unbedingte, große Öffnung für alles, was von Gott kommt.
Zur Person:
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, geb. 1945 in Deutschland, ist em. Professorin für Philosophie, Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften an der Universität Dresden und Leiterin des Instituts EUPHRat („Europäisches Institut für Philosophie und Religion“) an der philosophisch-theologischen Hochschule in Heiligenkreuz.
Buchtipp: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Lauterkeit des Blicks. Unbekannte Materialien zu Romano Guardini (Oktober 2013), 279 S., 24,90 € (Be&Be-Verlag). Ein Buch mit Texten, die einen Einblick in die „Werkstatt“ dieses glänzenden und glühenden Theologen schenken.