In den Schuhen des Anderen
Der Umgang mit demenzkranken Menschen erfordert sehr viel Kraft und Geduld. Mit der Methode der „Validation“ soll der Alltag für pflegende Angehörige erleichtert werden. von Anna Maria Bergmann-Müller

„Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus!“ – Zwei Sätze, hunderte Male schon gehört, jeden Tag aufs Neue. Seit 1995 beschäftigt sich Sr. Anaclet Nußbaumer mit demenzkranken Menschen und deren Angehörigen. Letztere sind mit der Pflege und Betreuung ihrer Schützlinge oft heillos überfordert. Warum?
Verwirrte Menschen sind anders. Und sie müssen auch anders behandelt werden. Sie sagen Dinge, die mitunter vor allem sehr nahestehende Personen kränken, sie beschuldigen, sie schimpfen und fluchen. Und es trifft meist die, die sich ganz besonders liebevoll um sie kümmern.
In den Schuhen des Anderen
„Man kann mit verwirrten, desorientierten Menschen richtig oder falsch kommunizieren“, weiß Sr. Anaclet Nußbaumer. „Um mit ihnen in Kontakt zu treten, ist es wichtig, sich in sie hineinzudenken, zu versuchen, ab und zu in ihren Schuhen zu gehen“, so Nußbaumer. Denn vor allem in der ersten Phase einer Demenzerkrankung – man unterscheidet mittlerweile an die 200 verschiedenen Arten – versuchen die Patienten nämlich, beginnende Defizite zu verleugnen, zu kaschieren, zu verdrängen. Und sie suchen nach Ausreden.
Konflikte in der Familie
Ein typisches Beispiel: Der verlegte Schlüssel wurde gestohlen, natürlich vom eigenen Bruder, der gestern zu Besuch war. Den teuren Pelzmantel hat selbstverständlich die Krankenschwester ausgeführt, und den kostbaren Schmuck hat die Enkelin veräußert. Solche Reaktionen stehen an der Tagesordnung von Demenzkranken und führen unweigerlich zu Konflikten, vor allem im Familienverband. Der Bruder ist beleidigt. Und auch die Tochter ist tief gekränkt, weil sie sich von ihrer in Wien lebenden Schwester den Vorwurf gefallen lassen muss, die an Alzheimer erkrankte Mutter schlecht zu versorgen. Per Telefon hat sich die Mutter darüber beklagt, dass sie kein Frühstück bekommt, und das Mittagessen sei sowieso unter jeder Kritik. Alles nicht wahr, zumindest in der Wahrnehmung der Gesunden.
Empathie ist gefragt
Um Demenzkranke verstehen zu können, hat Sr. Anaclet Nußbaumer die Methode der „Validation“ studiert, und zwar bei der Erfinderin persönlich: Naomi Feil.
Über 30 Jahre lang hat die 1932 in München geborene, später in die USA ausgewanderte Naomi Feil in einem Altenheim in Ohio, das ihre Eltern geleitet haben, gelebt. Zwischen 1963 und 1980 entwickelte die ausgebildete Gerontologin ihre Validations-Methode. All ihre praktischen Erfahrungen im Umgang mit alten und verwirrten Menschen hat sie in einer Theorie auf den Punkt gebracht.
Wertschätzender Umgang
Die Methodik basiert auf folgenden Zielen: „Die Lebensumstände des desorientierten Menschen werden akzeptiert. Die Pflegenden werden im Umgang mit dem sehr alten, desorientierten Menschen, der seinen Gefühlen freien Lauf lässt, unterstützt. Sie werden so akzeptiert, wie sie sind. Die Ursache von Gefühlen wird ergründet, und der kranke Mensch wird darin unterstützt, seine Würde zu erhalten.“
Hinter jedem Verhalten von Demenzkranken stehen, auch wenn wir es nicht verstehen, Grundbedürfnisse. Der Wunsch, sich sicher und geliebt zu fühlen, gehört dazu, die Sehnsucht, noch gebraucht zu werden und produktiv sein zu dürfen, ebenso. Spontane Gefühle wollen zum Ausdruck kommen. „Bei der Validation geht es darum, Vertrauen zu schaffen, Sicherheit und Stärke zu geben, das Selbstwertgefühl aufzubauen“, betont Naomi Feil.
Weniger Medikamente
Validation ist keine Therapie, aber eine wertvolle Art der Begleitung von verwirrten Menschen.
„Wenn man gut validiert, braucht der Patient weniger Medikamente“, weiß Sr. Anaclet Nußbaumer aus Erfahrung. Um sich in der „Welt der Verwirrungen“ zurechtfinden zu können, braucht es sehr viel Kraft von seiten der Angehörigen, aber auch das Pflegepersonal, zu Hause und in den Heimen, ist gefordert.
Der Bedarf an gut ausgebildeten Betreuern ist allerdings noch lange nicht gedeckt. – Ein Zukunftsthema angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Demenzkranken schon allein aufgrund der höheren Lebenserwartung in Zukunft drastisch ansteigen wird.
30.000 Neuerkrankungen
Allein in Österreich werden ca. 30.000 Neuerkrankungen pro Jahr verzeichnet. Mehr als 100.000 Personen leiden derzeit an einer Demenzerkrankung. Trotz verschiedenster Ausprägungen haben alle Erkrankten ein Bündel an Symptomen gemeinsam: Einschränkungen des Denkens, der Sprache, des Rechnens, der Urteilsfähigkeit, der Lernfähigkeit, der Auffassung und der Orientierung. Mehr über den richtigen Umgang mit Desorientierten im nächsten „Sonntag“.
Sr. Anaclet Nußbaumer, geb. 1943, ist Missionsschwester vom Kostbaren Blut im Kloster Wernberg. Sie arbeitet als Seelsorgerin im LKH Villach. Seit 1995 liegt ihr pastoraler Schwerpunkt in der Betreuung von dementen Menschen, vor allem aber in der Aus- und Weiterbildung von betreuenden Personen.
Seminar: „Validation für den Alltag“, Donnerstag, 10. November, mit
Sr. Anaclet Nußbaumer, 15 bis 18 Uhr, Bildungshaus „Sodalitas“ in Tainach. Anmeldung unter Tel. 04239/2642.