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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Heute käme die Türkei nie in die NATO

Botschafter Reinhard Bettzuege über christliche Ethik in der Außenpolitik

Der ehemalige deutsche Botschafter und Ständige Vertreter bei NATO und OSZE über die Außenpolitik des Vatikan sowie die Wertegemeinschaften NATO und Europäische Union

Reinhard Bettzuege, deutscher Botschafter bei NATO und OSZE sowie Professor für internationale Beziehungen, über christliche Außenpolitik, NATO und EU als Wertegemeinschaften sowie die diplomatischen Erfolge der Päpste (© Foto: privat)
Reinhard Bettzuege, deutscher Botschafter bei NATO und OSZE sowie Professor für internationale Beziehungen, über christliche Außenpolitik, NATO und EU als Wertegemeinschaften sowie die diplomatischen Erfolge der Päpste (© Foto: privat)
Botschafter Reinhard Bettzuege (© Foto: privat)
Botschafter Reinhard Bettzuege (© Foto: privat)

Sie sprechen am 12. Mai im Stift St. Georgen über „Christliche Ethik in der Außenpolitik“. Gerade heute ist dies ein brandaktuelles Thema. Welche ethischen Kriterien sollten für die Außenpolitik gelten?
Bettzuege: Erstes Gebot für unsere europäische Außenpolitik muss die Bewahrung des Friedens, die Gewährleistung der Menschenrechte und die Herrschaft des Rechtes sein. Zu den Menschenrechten gehören die Freiheit des Glaubens, die Meinungsfreiheit, eine freie Presse, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit von Mann und Frau. Aber auch das erste christliche Gebot, das der Nächstenliebe, muss seinen Platz finden, wie etwa in der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Vor allem anderen aber muss, wie es in der Präambel zum deutschen Grundgesetz heißt, ein vereintes Europa dem Frieden der Welt dienen.

Der Vatikan betreibt ja auch Außenpolitik. Welche Instrumente hat er dafür?
Bettzuege: Der Heilige Stuhl besitzt sogar den ältesten diplomatischen Dienst der Welt. In vielen Ländern, auch in Österreich, ist deshalb der päpstliche Abgesandte, Nuntius genannt, der Doyen des Diplomatischen Corps und steht damit automatisch an der ersten Stelle der akkreditierten Botschafter. Stalin fragte einmal spöttisch, „Wie viele Bataillone hat der Papst?“ Eine absurde Frage. Stalin ist längst vom Sockel gestoßen, das Papstamt jedoch ist diplomatisch vitaler denn je, wie es der jüngste Vermittlungserfolg zwischen den Erzfeinden USA und Kuba durch Papst Franziskus zeigt, oder wie es Papst Johannes Paul II. mit seiner Unterstützung der polnischen Opposition tat, der er zurief: „Habt keine Angst“. Auch der Satz von Kardinal Meisner auf dem Katholikentreffen in Dresden 1987, also noch vor dem Fall der Mauer, ist unvergessen, der bekannte: „Wir wollen keinem anderen Stern folgen als dem von Bethlehem.“ Drei Jahre später wurden diese Worte zur Inschrift der neuen Glocke der Dresdner Herz-Jesu-Kirche.  

Auch Papst Franziskus selbst betätigt sich außenpolitisch, wenn er immer wieder ethische Kriterien im Umgang der Menschen unterei-
nander und mit der Natur anmahnt. Können die sozialen Aspekte, die der Papst einbringt – ob in Evangelii Gaudium oder in Laudato Si – politische Wegweiser sein?

Bettzuege: Die Päpstliche Enzyklika „Laudato Si“ vom Pfingsttag 2015 ist getragen von der Sorge für unser gemeinsames Haus, die Erde. Franziskus fordert darin zu einer neuen „universalen Solidarität“ auf sowie zu einem neuen Dialog über die Zukunft unseres Planeten. Mit der Auseinandersetzung über diese hochaktuellen Themen möchte der Papst natürlich politische Wegweisung geben, den politischen Führern dieser Welt ins Gewissen reden, aber auch uns alle zum Nachdenken über unseren Lebensstil zwingen. An erster Stelle jedoch steht bei ihm die Sorge um unsere Heimat, die Erde, das gemeinsame Haus der Menschheit.

Sie selbst waren deutscher Botschafter bei der OSZE, auch der deutsche NATO-Gesandte. Die NATO versteht sich als Militärbündnis, jedoch auch als Wertegemeinschaft. Wenn man bedenkt, dass auch die Türkei Mitglied ist – wie passt das zusammen?
Bettzuege: Eine berechtigte Frage vor dem Hintergrund dessen, was Präsident Erdogan gerade seinem Land antut. Die Türkei wurde 1952 Mitglied der NATO, zur Hoch-Zeit des Kalten Krieges. Das geschah aus rein strategischen Gründen, weil die Türkei den Zugang zum Mittelmeer kontrollieren konnte. Würde die Türkei heute einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO stellen, so würde es ihr ähnlich ergehen wie mit ihrem Antrag, in die Europäische Union aufgenommen zu werden sie hätte keine Chance.

Warum?
Bettzuege: Weil die Präambel des Nordatlantikvertrages eine klare Sprache spricht. Dort heißt es nämlich: „Die Parteien dieses Vertrages … sind entschlossen, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten.“ Als dieser Vertrag am 4. April 1949 in Washington geschlossen wurde, gehörten ihm nur 12 christlich geprägte, demokratische Länder an, nämlich die USA, Kanada, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Portugal. Das gemeinsame Erbe und die Zivilisation, auf die der Vertrag Bezug nimmt, sind christliches Erbe und eine christliche Zivilisation, mit allen ethischen Geboten, die sie leiten. Diesem „Club“ konnte die Türkei jedenfalls nicht angehören, auch wenn sie damals von Atatürk noch laizistisch geprägt war.

Dennoch wird die NATO heute eher als Militärbündnis gesehen denn als Wertegemeinschaft ...
Bettzuege: Als Wertegemeinschaft wurde sie insbesondere von den Ländern des früheren Ostblocks gesehen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihr Heil in dieser Nationenfamilie suchten, weil, wie Vaclav Havel es damals ausdrückte, es sich um eine Allianz handelt, „die nicht nur die nationale Souveränität oder geopolitische Interessen schützen sollte, sondern auch eine bestimmte menschliche Kultur und Zivilisation“. Und die New York Times ging so weit, einen Artikel über die Koalitionsbildung in Polen mit dem Titel zu überschreiben: „Polish Coalition Builder Stands for God and NATO“ – Gott und NATO in einem Atemzug zu nennen, das war die Stimmung in Polen nach der Wende.

Obwohl als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, versteht sich die Europäische Union ganz besonders als Wertegemeinschaft. Wie beurteilen Sie die aktuelle Wertedebatte rund um die Flüchtlingsfrage?
Bettzuege: Sicher könnte man das blaue EU-Banner mit den 12 gelben Sternen als Symbol gemeinsamer Überzeugungen, einer europäischen Wertegemeinschaft, einer gemeinsamen Kultur der Mitgliedstaaten oder sogar einer gemeinsamen christlichen Tradition deuten. Das nennt man dann „Zivilreligion“. Im Jahre 2007 wurden in Lissabon in den Änderungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Präzisierungen vorgenommen. Was die Flüchtlingsfrage betrifft, so heißt es klar und deutlich: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ Dies sind die Grundlagen auch für die jetzt geführten Debatten.

Wenn Sie am 12. Mai im Stift St. Georgen, also in einem kirchlichen Bildungshaus, zu politischen Themen referieren: Wie wichtig ist es, dass sich die katholische Kirche in politische Belange einbringt?
Bettzuege: Jeder Mensch ist ein homo politicus und sollte sich, gerade als Christ, in der Politik umtun. Dasselbe gilt für die Kirche. Sie soll und muss Wegweiser sein in schwierigen politischen Zeiten. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion mit hoffentlich zahlreichen Diskutanten am 12. Mai in St. Georgen am Längsee.