Helden und Heilige
Der Dogmatiker Jozef Niewiadomski im Gespräch.

„Helden von morgen“ kennt heute jeder ...
NIEWIADOMSKI: „Helden von morgen“ und „Starmania“ erinnern mich an den alten Brauch der Heiligsprechungen durch die Stimme des Volkes: „Vox populi – vox Dei.“ Ich denke auch an die Helden von Fukushima und die Helden des 11. September: Menschen, die bereit sind, sich für andere zu opfern, „burning persons“. Gerade bei den Helden von Fukushima und New York ist aber nicht ganz klar, wie weit sie aus sich heraus zu ihren Leistungen bereit und ob sie sich der tatsächlichen Gefahr wirklich bewusst waren. Für meinen Vortrag in Tanzenberg habe ich den Titel „Opfer – Helden – Märtyrer – Heilige“ gewählt. Der Aspekt des Opfers ist nämlich in diesem Zusammenhang nicht unwichtig. Nehmen wir Jeanne d’Arc: Opfer der Inquisition, Heldin des französischen Volkes, rehabilitiert und Heilige der Kirche. Friedrich Schiller hat ihre Geschichte für pädagogische Zwecke inszeniert, man könnte auch sagen instrumentalisiert. Die Aussage seiner Dichtung ist: Das Vaterland braucht (Selbst-)Opfer. Aber die moralische Instrumentalisierung der Helden ist in der Neuzeit zusammengebrochen.
Was ist ein Heiliger, eine Heilige?
NIEWIADOMSKI: „Heilig“ nennen wir Menschen, in deren Leben eine gewisse Analogie zum Leben Christi vorliegt. Was ist bei Jeanne d’Arc analog zu Christus? Mit den Worten der Dramatischen Theologie: Ihre Verurteilung erfolgte aufgrund einer Lüge, sie wurde durch die Schuld anderer zum Opfer. Und ein Zweites: Wie Jesus hatte sie die Fähigkeit, dieses Geschick in etwas Positives zu wandeln. Hier wird Gnade sichtbar: Gnade, Widriges zur Hingabe zu machen. Dadurch hat sie wie Jesus den Teufelskreis der Gewalt durchbrochen.
Jesus war ohne Schuld. Aber nicht jede oder jeder Heilige hat eine heiligmäßige Biografie...
NIEWIADOMSKI: Heilig sein heißt nicht „moralisch top“. Entscheidend ist, aus der Gnade heraus zu leben, aus dem Beschenkt-Sein von Gott, aus der Kraft Gottes heraus. Im Gegensatz zu Schiller pflegt die Kirche keine Pädagogik der Vollkommenheit. Christen „dürfen“ versagen, weil Versagen nicht das Ende ist. Durch Vergebung kann daraus ein Neuanfang werden, kann Größeres wachsen. Das meint die „Felix culpa“, die „glückliche Schuld“. Das versucht der Maler El Greco ins Bild zu bringen, wenn er den weinenden Petrus malt: die Erfahrung, dass es ein Angenommen-Sein trotz Schuld gibt. Heiligkeit meint in diesem Sinn: In meinem eigenen Leben die Spuren der Gnade Gottes entdecken.
Helden, Heilige: Es gibt sicher viele heiligmäßige Menschen, ganz einfache Frauen und Männer, die nicht wahrgenommen werden. Wie viel Rampenlicht braucht es zur Heiligsprechung?
NIEWIADOMSKI: Eine gewisse Popularität braucht es schon, das stimmt. Es ist aber ein großes Verdienst von Papst Johannes Paul II., dass er das Heiligsprechungsverfahren neu geordnet hat. Seitdem wurden so viele Menschen heilig gesprochen wie nie zuvor. Erst dadurch wurden all die Märtyrer des 20. Jahrhunderts möglich. Es braucht aber viel mehr als nur Popularität. Johannes Paul II. hat viel Sensibilität für das moderne Glaubenspotential gehabt, und die „vox populi“ spielt auch heute noch eine Rolle – aber in anderer Weise als bei den „Helden“ des ORF.
Zum Beispiel ...
NIEWIADOMSKI: Nehmen wir den polnischen Priester Jerzy Popieluszko. Wir haben etwa zur gleichen Zeit studiert, er war Kaplan in Warschau. Sein Verdienst: Er war da, als die Arbeiter der Gewerkschaft Solidarno´s´c einen Priester brauchten. Er hat mit ihnen die Messe gefeiert. Er hat sich ansprechen lassen, ist auf seinem Platz geblieben. Er ist mit ihnen gewachsen. Als er schließlich von der Geheimpolizei umgebracht wurde, galt er als Märtyrer. Zu seinem Begräbnis kamen 600.000 Menschen. Das war keine Massenhysterie; die Menschen wussten, dass sie dafür mit Nachteilen zu rechnen hatten.
Was hat die Menschen bewegt?
NIEWIADOMSKI: An Popieluszko wird sichtbar: Es geht um mehr als Beliebtheit. Er war dort, wo er gebraucht wurde. Er wurde Opfer, aber ist aus der Opferrolle herausgewachsen. Das ist etwas, was uns alle angeht: Wie bewältigen wir unser Opfer-Sein? Zur Verwandlung des Opfer-Seins in etwas Positives braucht es die Hingabe, und die findet nur jemand, der Gnade erfahren hat.
Johannes Paul II. hat einen kreativen Impuls gesetzt: Es gibt sehr viele neue Glaubenszeugen, die auch uns einladen, uns von der Gnade anrühren und verwandeln zu lassen. Leider werden sie im deutschen Sprachraum wenig wahrgenommen. Der Blick auf sie wäre aber gerade in einer Zeit, die sich so gerne auf Opfer fokussiert – anklagend wie mitfühlend –, sehr heilsam.
Einerseits reizt der Blick auf die Opfer, andererseits die Stärke der Helden ...
NIEWIADOMSKI: Maria Magdalena war die erste Zeugin der Auferstehung. Das sollte uns zu denken geben: Die Tradition beschreibt sie als Frau am Rand der Gesellschaft, dann als Jüngerin. Alles zusammen eine Frau, deren Träume viel öfter gescheiter sind als die von anderen Menschen. Jesus hat sie beim Namen gerufen. Vielleicht kann jemand mit einer solchen Biografie viel eher etwas damit anfangen, wenn Gott ihn beim Namen ruft.
Welche Heiligen brauchen wir heute?
NIEWIADOMSKI: Ich würde so fragen: Wo brauchen wir heute die Verdichtung von Glaubenserfahrung? Wo ist Gnade am notwendigsten? Wo ist die Würde des Menschen am wenigsten spürbar? Dort, wo Menschlichkeit der attraktiven Beigaben Geld, Reichtum, Schönheit und Einfluss beraubt ist. Heute Morgen habe ich mit einem Studenten über seine Diplomarbeit zur Pränataldiagnostik gesprochen. Auch daran denke ich dabei.
Wir brauchen Menschen, die im Menschen den Menschen sehen – gerade dann, wenn seine menschliche Würde in Frage gestellt wird: Ecce Homo. Wir brauchen Menschen, die wie Franziskus den Aussätzigen küssen – weil sie in ihm den Menschen mit all seiner Würde erkannt haben. Das zu erkennen ist eine Gnadenerfahrung.