Heilsames Erinnern im gemeinsamen Dialog
Jürgen Pirker und Daniel Wutti über die Last der Vergangenheit und die Chance, sie im Gespräch erinnernd zu verarbeiten
Die beiden Jungwissenschaftler Jürgen Pirker und Daniel Wutti über die Last der Vergangenheit und die Chance, sie im Gespräch mit Zeitzeugen erinnernd zu verarbeiten.


Sie führen am 8. und 15. Mai in Tainach interaktive Veranstaltungen durch, bei denen vor allem junge Menschen zu Wort kommen. Worum wird es da gehen?
Pirker: Anlässlich der Jubiläen, die ja immer kollektive Erinnerungspunkte sind, wollen wir uns mit der Frage beschäftigen: Wie gehen wir mit dieser Vergangenheit um?
Wutti: 70 Jahre danach stehen die jungen Menschen im Vordergrund. Es ist ja nicht so, dass sie sich nicht dafür interessieren. Es soll Möglichkeiten geben, dass sie sich wissenschaftlich und politisch damit beschäftigen. Sie verändern den Diskurs und machen etwas Offeneres und Gemeinsameres daraus, als es bisher war.
Weshalb gehen Sie mit diesem Anliegen gerade auf heutige Schülerinnen und Schüler zu?
Pirker: Jüngeren Generationen fällt es mitunter leichter, über die Ereignisse zu sprechen. Mit der Enkelgeneration tritt die erste Generation viel leichter ins Gespräch als mit den eigenen Kindern.
Wutti: In Projekten 2010 bis 2013 haben es Jugendliche wirklich geschafft, ihre Großeltern zu befragen. Sie konnten das tun, was die mittlere Generation vielleicht ihr ganzes Leben nicht tun konnte. In Kärnten ist ja der politische Dialog ganz populär zwischen den ehemaligen „Feinden“, ich denke da z. B. an Feldner-Sturm. Allerdings wäre ein so Dialog auch auf familiärer Ebene sehr wichtig. Gerade wegen des Zeitfensters, weil noch Zeitzeugen leben.
Das Zeitfenster ist noch offen, und die junge Generation kann unbelastet fragen. Das heißt: Der beste Zeitpunkt, das Vergangene aufzuarbeiten, ist jetzt?
Pirker: Ich glaube, das Zeitfenster ist ein sehr wertvolles, um die vielen Facetten der Geschichte, der Erinnerung und des Umgangs mit Geschichte sichtbar zu machen. Außerdem ist es sehr wertvoll, dass Kunst und Literatur begonnen haben, das aufzuarbeiten, was jetzt aufbricht.
Liegt der Beitrag von Kunst und Literatur vielleicht gerade darin, dass das Geschehene dargestellt, nicht diskutiert wird?
Pirker: Wenn nur rationell erklärt wird, geschieht das gleiche wie in den 70er-Jahren: Schüler haben gelernt, dass die Kärntner Slowenen schon seit Jahrhunderten hier ansässig sind, und haben dennoch gesagt: Ich weiß ja, aber die sollen trotzdem heimgehen nach Jugoslawien. Mir sind deshalb Begegnung und Kontakt sehr wichtig, die Auseinandersetzung miteinander. Schüler treffen sich und sprechen miteinander über die Erfahrungen ihrer Familien in der Vergangenheit, aber auch über ihre eigene Einstellung. So gelingt es, Emotion zu ermöglichen und sie zu verstehen versuchen.
In Deutschland läuft gerade der Gröning-Prozess – ein alter SS-Mann steht vor Gericht und schockiert dadurch, dass er wie unbeteiligt von den entsetzlichen Vorgängen in Auschwitz erzählt. Ist solche Erinnerung heilsam?
Pirker: Eine Frage ist: Wie gehen die Medien damit um? Eine andere: Wie geht er selbst damit um? Und dann schließt sich unter Umständen die Frage an: Wie gehen wir damit um, wenn es nicht um irgendjemanden von irgendwo geht, sondern möglicherweise um einen eigenen Familienangehörigen? Das macht etwas mit uns und stellt vieles in Frage.
Wutti: Für mich ist interessant, dass man – auch in Deutschland – bei der Aufarbeitung gerne alles auf eine bestimmte Gruppe von Menschen projiziert: Die Täter waren immer die anderen; die, die bestimmte Dienstgrade oder Positionen gehabt haben. Man selbst und die eigene Familie ist von der Täterschaft immer weit entfernt. Was aber wirklich weiterhilft, ist, das eigene familiäre Umfeld kritisch zu betrachten. Ein offener und ehrlicherer Umgang mit der Vergangenheit wäre heute wichtig.
Was bringt das für die Aufarbeitung des Vergangenen?
Wutti: Ein Trauma ist ein Erlebnis, das die psychische Bearbeitungsfähigkeit übersteigt. Spannend ist, dass gerade bei Ereignissen wie Holocaust und Shoa nicht nur die unmittelbar Betroffenen traumatisiert wurden, sondern dass sich diese Erfahrungen auch auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Auch die Kinder hatten Albträume darüber. Dazu gibt es Vermeidungsverhalten und Abwehrreaktionen. Aber nicht alles ist Trauma; wir unterscheiden davon Belastungen. Auch diese können, wenn sie nicht bearbeitet werden, weitergegeben werden.
Kann man das objektiv erheben?
Wutti: In der Psychosomatik weiß man, dass Menschen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, grob gesagt doppelt so viele Symptome zeigen wie Magen-Darmbeschwerden, Kreuzschmerzen usw. Psychisch erleben sie oft großen Stress, der von außen her nicht zu erklären ist. Das findet sich oft auch in der zweiten Generation, obwohl diese die Zeit nicht selbst erlebt hat.
Pirker: Das hat auch viel mit dem Schweigen zu tun. Aus erlittenem Leid wächst oft das Bewusstsein, weiterkämpfen zu müssen. Das kann dann Teil der eigenen und der Familienidentität werden. Bei den Jugendlichen im letzten Projekt war eine interessante Erkenntnis: Zum Totschweigen gehören zwei – einer, der nicht erzählt, und einer, der nicht fragt. Auch wenn sie berichten, wie schwer es war, ihre Großeltern zum ersten Mal bewusst auf diese Ereignisse anzusprechen. Es habe oft eine Zeit gebraucht, sich darauf einzustellen, und die Bereitschaft, diese unschönen Dinge ins Gespräch zu bringen.
Herr Pirker, was war Ihre Motivation, sich als Jurist und Historiker mit der Kärntner Geschichte zu befassen?
Pirker: Meine Grundmotivation war, meine beiden Fächer Rechtswissenschaft und Geschichte miteinander zu verbinden. Als ich das Thema für meine erste wissenschaftliche Arbeit suchte, stellte ich mir die Frage: Was hält eigentlich den Kärntner Ortstafelstreit am Leben? Es gibt klare juristische Normen, und dennoch kann darüber derart emotional gestritten werden, dass keine Umsetzung möglich ist.
Welche Entwicklung haben Sie seitdem beobachtet?
Pirker: Miteinander reden trägt viel zum Verständnis bei. Schülerinnen und Schüler, die durch unser Projekt zum ersten Mal Angehörigen der Volksgruppe begegnet sind, haben geschrieben: Jetzt verstehe ich endlich, warum es wichtig ist, dass man im öffentlichen Raum zweisprachige Aufschriften hat und dass man öffentlich die eigene Muttersprache sprechen kann, weil sie einem einfach emotional näher ist. Das war ihnen vorher nicht so bewusst.
Herr Wutti, was ist Ihr konkreter Hintergrund in diesem Projekt?
Wutti: Mir ging es als Angehörigem der Minderheit zunächst darum, mich selbst, meine persönliche Betroffenheit und die meines Umfeldes besser verstehen zu können. Die Forschung half mir dabei, vieles, was für mich als Kärntner Slowene selbstverständlich schien, differenzierter zu sehen und auch andere zu verstehen. Früher habe ich z. B. Menschen, die ihre slowenische Sprache verleugneten, irgendwie als Verräter gesehen. Das hat sich für mich im Laufe des Studiums geändert. Aber in diese Richtung ist in Kärnten generell noch viel aufzuarbeiten. Als Methode ist mir unter anderem die Psychotraumatologie ganz wichtig, um Dynamiken zu verstehen, die Menschen bewegen. Nicht nur diejenigen, die die Zeit des Nationalsozialismus selbst erlebt haben, haben dort Verletzungen erlitten, die noch nicht geheilt sind, auch die nachfolgenden Generationen tragen noch daran.
Veranstaltungstipp:
1945 – 1955 – 2015: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Erinnerungen und Visionen. Freitag, 8. 5. 2015, Beginn um 15 Uhr, und Freitag, 15. 5. 2015, Beginn um 16.00 Uhr, Bildungshaus Sodalitas/Tainach. Mit Landeshauptmann Peter Kaiser, dem Historiker Helmut Konrad, Friedensforscher Werner Wintersteiner u. a. Inhaltliche Leitung: Daniel Wutti und Jürgen Pirker.
Näheres: www.sodalitas.at
Zu den Personen:
MMag. Dr. Jürgen Pirker, geboren 1985, Studium von Geschichte und Recht, Assistenzprofessor am Institut für Öffentliches Recht der Universität Graz.
MMag. Daniel Wutti, geboren 1986, Studium von Psychologie sowie Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universitätsassistent am Institut für Psychologie der Universität Klagenfurt.