Gottes- und Götterverehrung - und wer davon profitiert
Peter Dinzelbacher ist Sozial- und Kulturhistoriker. Ein Gespräch mit Georg Haab
Peter Dinzelbacher über seine Wahrnehmung von katholischer Mystik, Hildegard von Bingen und Weltuntergangsängsten.


Es erstaunt, so viele theologische Themen in Ihrer Literaturliste zu entdecken, obwohl sie kein Theologe sind.
Dinzelbacher: Ich stelle kulturhistorische Betrachtungen an. Ich stehe dem Katholizismus weltanschaulich fern, er ist für mich aber deshalb wichtig, weil er in der Geschichte unglaubliche Kräfte ausgelöst hat. Mein Hauptarbeitsgebiet, das auch mit Theologie und Germanistik zu tun hat, ist die Mystik. Für mich ist Mystik bedeutsam, weil ihre Texte zu den ganz wenigen gehören, wo Menschen des Mittelalters autobiografisch über ihre Gefühle und ihre Vorstellungen sprechen.
Am 7. Oktober wird Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erklärt. Sie haben sich mit ihr beschäftigt?
Dinzelbacher: Hildegard wird gerne Mystikerin genannt, aber sie ist im strengen Sinn keine. Das Zentrum der Mystik ist ja die „unio mystica“, das heißt die Vereinigung der Seele mit der Gottheit. Das haben Sie bei Heinrich Seuse oder Teresa von Avila, bei den wirklichen Mystikern. Hildegard kennt das überhaupt nicht. Sie versteht sich als Prophetin. Es gibt einen schönen Vergleich: Hildegard ist wie eine Türe, durch die Gott eintritt, und dann spricht er selbst. Sie zieht sich vollkommen zurück.
Wieso wird sie aber so gerne als Mystikerin bezeichnet?
Dinzelbacher: Das hat zwei Gründe. Zum einen verwechseln viele Menschen das Wort „mystisch“ mit „mysteriös“, geheimnisvoll. Das klingt ähnlich, ist aber nicht das Gleiche. Zum zweiten mit dem Wort wird ein ungeheuerlicher Missbrauch betrieben. Es gibt ja schon den Begriff „Cyber-Mystik“, Internet-Mystik, was völlig absurd ist. Das Wesentliche an Mystik ist: Die Seele vereinigt sich mit Gott, und dafür kennt das Christentum drei Möglichkeiten: Die Wesensmystik, hier vereinigt sich die Seele mit Gott auf einem kontemplativen Niveau, das frei von allen Bildern ist. Meister Eckhart beschreibt das. Dann gibt es die Passionsmystik, das ist die Vereinigung im Leid. Der Mystiker wird Christus gleich, indem er seine Schmerzen bei der Passion selber durchmacht und meistens auch die Stigmen empfängt. Franz von Assisi ist das Paradebeispiel dafür. Dann die wichtigste und vielleicht häufigste Mystik, das ist die Liebes- oder Brautmystik. Da wird die Sprache der Sexualität, die Sprache der Erotik verwendet, der Partner ist Gott. Die wichtigsten Frauenmystikerinnen erleben wirklich körperliche und geistige Beziehungen, erotische Beziehungen zu Gott, bis hin zur sogenannten mystischen Schwangerschaft. Als prominentes Beispiel gilt Birgitta von Schweden. Sie ist eine offizielle, berühmte Heilige der katholischen Kirche, eine Ordensgründerin, und diese erlebte zu Weihnachten die mystische Schwangerschaft, wir würden heute medizinisch von einer Scheinschwangerschaft sprechen – eine ganzkörperliche Erscheinung aufgrund dieses Vorstellungskomplexes. Das ist gerade bei Birgitta besonders interessant, weil sie ja Mutter von 8 Kindern war – sie wusste, wovon sie sprach.
Mystik ist:
Die Seele vereinigt sich mit Gott.
Mystiker erleben wirklich körperliche und geistige Beziehung zu Gott.
Wie kommt Hildegard von Bingen zu ihrem Rang als Heilige und Kirchenlehrerin?
Dinzelbacher: Man muss sagen: Hildegard war auf jeden Fall ganz ungewöhnlich für ihre Zeit. Sie war eine adelsstolze Frau, von der Gesellschaft anerkannt als Trägerin des Wortes Gottes. Es war diese Anerkennung als Sprachrohr Gottes, die ihr diese Position verschafft hat. Man muss bedenken: Sie war klausurierte Benediktinerin. Sie hätte also das Kloster überhaupt nicht verlassen dürfen, ist aber auf vier große Predigtreisen durch ganz Deutschland gezogen. Etwas, was sonst jede Frau eindeutig als Häretikerin gekennzeichnet hätte. Sie durfte es mit Genehmigung der Ordensoberen und der Bischöfe, sie wurde eingeladen zu predigen. Das kommt im 12. Jahrhundert sonst nicht vor, das nächste Beispiel kommt erst wieder im 14. Jahrhundert mit Katharina von Siena. Hildegard war auch als Ratgeberin in ihrer Zeit sehr gesucht. Wir hören geradezu von Pilgerströmen, die nach Bingen gezogen sind, um Rat zu suchen.
In allen Kulturen gibt es regelmäßig Weltuntergangspropheten. Was macht sie immer wieder interessant?
Dinzelbacher: Die Untergangsprophezeiungen religiöser Natur haben immer den Aspekt, dass den Menschen versprochen wird, sie gehören zur kleinen Gruppe derer, die trotz des Weltuntergangs gerettet werden, wenn sie dieses oder jenes tun. Im ersten Jahrhundert war das, sich zum Christentum zu bekehren. Wenn Sie die heutige ökologische Apokalypse nehmen: Der Weltuntergang steht bevor, weil wir Menschen so böse sind, weil wir so viele Abgase usw. erzeugen. Früher hat man das Sünden genannt. Früher hat man sie Gott gegenüber begangen, heute ist das Gegenüber die personifizierte Umwelt. Die Rettung erfolgt durch Askese. Im Mittelalter Askese durch körperliche Kasteiungen, Schlafentzug, Essensentzug, heute Askese durch Verzicht auf Errungenschaften der Technik, also kein Auto etc. Sie sehen die strukturellen Parallelen.
Wer profitiert von diesen Gedankengängen?
Dinzelbacher: Die aktuellen Untergangsszenarien, nämlich dass die Welt entweder unter dem Meersspiegel versinkt oder durch die Klimaerwärmung verbrennt, sind sehr eng mit gewinnbringenden Lösungen in Form von Windrädern oder Energiesparlampen verknüpft. Man muss aber differenzieren zwischen dem Inhalt, also dem Weltuntergangsmythos, und seiner Instrumentalisierung. Man muss schauen, wer daraus auf welche Weise Gewinn erzielt. Es kommt durchaus vor, dass Weltuntergangspropheten es ernst meinen, dass sie wirklich von Angst ergriffen und von ihren Prophezeiungen überzeugt sind. Besonders klar wird die Funktionalisierung aber, wenn die, die den Untergang predigen, auch gleich die Lösung anbieten – meistens eine, die ihre Macht und ihre Einnahmen steigert.
Ist eine Veranstaltung wie das „Forum Junge Theologie“ ein Schritt heraus zu einem bewussteren Umgang mit dem Thema?
Dinzelbacher: Jedes angstbesetzte Thema, wenn es diskutiert wird, wird auch im psychologischen Sinn bearbeitet. Insofern ist das sicherlich eine Möglichkeit, damit besser umzugehen. Nur glaube ich nicht, dass von den Menschen, die hier sind, jemand auch nur im geringsten dafür anfällig ist, sich solchen Vorstellungen hinzugeben. Die Chance ist, dass sie wiederum Leute ansprechen, die anfällig dafür sind.
Ihr Wunsch an unsere Leserinnen und Leser?
Dinzelbacher: Aus eigener Verantwortung die Dinge zu kritisch betrachten und wirklich selbst zu verstehen suchen. Das ist der erste Schritt, nicht von einer Autorität – sei es eine Kirche, sei es eine Partei – manipuliert und instrumentalisiert zu werden.
Zur Person:
Peter Dinzelbacher, geb. 1948 in Linz, ist Historiker mit Schwerpunkt Mentalitätsgeschichte, Mystik und Religiosität sowie Kultur- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Lehrtätigkeit an zahlreichen Universitäten in Europa und Autor zahlreicher Veröffentlichungen. Dinzelbacher war Hauptreferent beim „Forum Junge Theologie“ im Marianum Tanzenberg (6.-8. September 2012) zum Thema „Weltuntergang jetzt!?“