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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Glauben leben und ihn für andere erfahrbar machen

Der Frankfurter Jesuit über Michael Schneider über Priesterberufungen, den Ruf der Kirche in Deutschland und Österreich und die Situation der Kirche in Syrien

Foto: Haab
Foto: Haab

Sie begleiten seit Jahren junge Priester in ihre Berufung hinein. Welche Veränderungen im Berufungsbild erleben Sie?
Schneider: Was jüngere Menschen, die in ein Priesterseminar kommen, heute in besonderer Weise bestimmt: Sie haben einen langen Weg zurückgelegt. Sie mussten ihre ersten Schritte auf den neuen Beruf schon auf vielfältige Weise verteidigen, sei es in der Familie oder bei den Klassenkameraden und in ihrer näheren Umgebung, so dass sie mit einem ziemlich gefestigten und überlegten Entschluss ins Priesterseminar eintreten. Das andere, was sie auszeichnet: Sie kommen als Fragende und möchten in das Leben der Kirche eingeführt werden. Insofern mögen sie nicht die jetzige Gestalt der Kirche, weil ihnen momentan viel zu viel offen erscheint und in Frage gestellt wird. Man sagt auch, die junge Generation der Seminaristen sei konservativ geworden, und wir sehen es an der Priesterkleidung und bei den Primizen. Das weist auf die Notwendigkeit einer Klärung im Selbstverständnis des Priesters und ist auch eine Auseinandersetzung mit der jetzigen Priestergeneration.

Hat sich das Umfeld verändert, aus dem Seminaristen kommen?
Schneider: Die Familienverhältnisse bedingen, dass die Arbeit des Spirituals sich auch auf den Kontakt mit der Familie der Seminaristen ausrichtet. Ich kann nicht nur den Seminaristen im Blick behalten, sondern muss schauen, dass ich die Eltern gewinne, damit sie den Weg des Seminaristen unterstützen. Es gibt bei den Eltern teils eine heftige Ablehnung des Priesterberufes, bis dahin, dass sie das Geld entziehen oder ihre Söhne nicht mehr nach Hause kommen dürfen. Eine solche Heftigkeit ist neu.

Die starke Ablehnung der Kirche bei Eltern und Freunden: Wo-rauf führen Sie diese zurück?
Schneider: Auch wenn es nicht der einzige Grund ist: Ein wesentlicher Grund sind schon die Missbrauchsfälle und die Missbrauchsdebatte. Diese haben dem Ansehen der Kirche und dem Priesterberuf sehr geschadet. Etliche Eltern sind vielleicht gar nicht unmittelbar gegen einen Priesterberuf, aber sie machen sich ihre Gedanken, sobald ihr Sohn einer Institution dienen will, die gesellschaftlich nicht mehr ganz integer dasteht.

Karl Rahner hat gesagt. Der Christ von morgen wird Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein. Es braucht also Menschen, die den Glauben selbst leben und als Priester für andere erfahrbar machen?
Schneider: Die Mystagogie, also die Einführung in die gläubige Erfahrung und den Vollzug des Glaubens im Alltag, ist ein Schlüsselwort. Wenn Menschen in die Kirche kommen, erfahren sie diese nicht unbedingt mehr als einen sakralen Raum, als Gotteshaus mit einem Tabernakel, vor dem man eine Kniebeuge macht, sondern zuweilen nur noch als eine Versammlungsstätte. Das Sensorium für das Heilige ist verloren gegangen. Meine Hauptarbeit als Spiritual mit 18- bis 20-Jährigen ist zuerst die einer Glaubensschule: uns jeden Morgen zu versammeln, erst einmal ein Kreuzzeichen zu machen oder zu knien, also überhaupt einmal vor Gottes Antlitz zu treten; oder zu lernen, was ein gläubiger Alltag ist: Dazu gehört auch, den Sonntag zu feiern, weil die Familien kaum noch eine Sonntagskultur pflegen; oder der gläubige Abschluss eines Tages durch Gewissenserforschung oder die Feier der Komplet.

Menschen wollen wissen, wie der Glaube ihnen hilft, Leben in Fülle zu gewinnen.

Sie schreiben in einem Buch: Die Bedeutung des Glaubens für Leben und Welt ist sein Maß und seine Identität.
Schneider: Menschen spüren: Ist der Glaube nur etwas, was einfach dazukommt, oder ist er die Deutung meines Lebens schlechthin? Ich würde betonen: Glaube hilft, das eigene Leben verstehen zu lernen; und er hilft, mein Leben authentisch zu gestalten. Dies ist heute viel entscheidender geworden: Menschen wollen wissen, wie der Glaube ihnen hilft, Leben in Fülle zu gewinnen.

Leben in Fülle: Wie kann man sich das heute vorstellen?
Schneider: Der Glaube ist ein ganzheitliches Leben in den 24 Stunden des Alltags. Es geht im Glauben nicht nur um Glaubenssätze, sondern um ein tiefes Eintauchen in das Leben, wie es nun mal ist, mit Berufsfragen bis hin zu zerbrochenen hergebrachten Lebensformen. Hier bietet der Glaube Antworten, wie ich nämlich auch mit Brüchen in der Lebensgeschichte und mit verfahrenen Situationen umgehen kann. Mit einer solchen gläubigen Lebensschulung stehen wir noch ganz am Anfang, weil wir in der Kirche oft den Eindruck vermitteln: Der Christ ist derjenige, der in allem integer ist und eine weiße Weste aufzuweisen hat. Papst Franziskus geht hier einen anderen Weg, und zwar bewusst, bis an die Ränder unserer Gesellschaft.

Mit der Folge, dass ihm vorgeworfen wird, er gäbe den rechten Glauben preis.
Schneider: Ja, aber das ist die Grundsituation jedes Seelsorgers: Ich kann den anderen nicht allein an den Zehn Geboten messen. Ich muss ihm auch helfen, wie er diese heute konkret leben kann. Das heißt nicht, dass ich die Zehn Gebote deshalb zurücknehme, aber ich muss ihm den Zugang eröffnen, damit er das, wofür Kirche und Glauben stehen, überhaupt als erreichbar und lebenswert erkennt.

Sie stehen mit einem Bein in der Ostkirche. Die Kirche in Syrien leidet sehr; man hat fast den Eindruck, dass all dieses Leid und Elend unabwendbar seien. Wie sehen Sie die Situation?
Schneider: Für mich ist es eine unheimliche Erfahrung, dass ein Land im Begriff ist auszubluten und wir davon kaum Kenntnis nehmen. Über Jahre ist in Syrien Krieg, Menschen werden unschuldig dahingeschlachtet. Syrien selbst ist nicht der alleinige Urheber dieser Situation, auch nicht Präsident Assad. Syrien –so habe ich selbst es bei meinen Besuchen erfahren –war ein wohlhabendes, zufriedenes und in etwa auch freies Land. Syrer, denen ich ein politisches Urteil zugestehen kann, sagen, dass der Krieg von außen angezettelt wurde. Die Grundfrage ist also: Wer hat Interesse daran, Syrien zu zerstören? So ist Syrien sicher auch Opfer von Gewalt und Machtinteressen anderer Länder, und sie leiden etwas aus, was gar nicht ihr eigenes Problem ist. Aber die Kirchen vor Ort leisten eine großartige Arbeit, gerade was Einheit und innere Solidarität mit den Menschen betrifft. Sie werden sicherlich gestärkt aus dem Krieg hervorgehen.

Was ist Ihr Wunsch an unsere Leserinnen und Leser?
Schneider: Bei den Priestertagen haben wir gemeinsam über die Eucharistiefeier nachgedacht. Priester beklagen, dass sie sonntags öfters eine Eucharistie zu feiern haben, aber in der Woche kaum noch die Gelegenheit finden, die Gemeinde zu einer Messe zu versammeln. Das ist für Priester nicht leicht, sie fühlen sich von der Gemeinde alleingelassen. Es gibt nicht nur das Problem des Priestermangels, sondern auch des Gläubigenmangels; wir sollten gemeinsam nachdenken, wie der tägliche Vollzug der Eucharistie gesichert werden kann.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Prof. Dr. Michael Schneider, geb. 1949 in Köln, studierte Philosophie und Theologie in Münster, Rom, Wien und Freiburg/Breisgau. Seit 1984 ist er Spiritual am überdiözesanen Priesterseminar St. Georgen in Frankfurt, seit 1998 leitet er das Institut für Dogmen- und Liturgiegeschichte der Jesuitenhochschule in Frankfurt. Als „Großarchimandrit des Patri-archats von Antiochien“ ist Schneider ein Repräsentant der griechisch-katholischen Kirche in Deutschland.
Im Mai 2018 war Schneider Vortragender bei den Priestertagen in Wernberg und St. Georgen.