Es gibt keine Obergrenze der Nächstenliebe
Franz Küberl, ehemaliger Caritas-Präsident, im Gespräch mit Gerald Heschl
Der ehemalige wortgewaltige Caritas-Präsident über die lange Entwicklungsgeschichte der Krise im Nahen Osten, Hilfsbereitschaft, Angst und richtige Integration


Seit Jahren schon hilft die Caritas in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten. Im Vorjahr machten sich dann Millionen Menschen aus diesen Lagern Richtung Europa auf. Was ist da passiert?
Küberl: Seit 2006 litt Syrien unter einer verheerenden Trockenheit und Hungersnot. Fast zwei Millionen Binnenflüchtlinge kamen deswegen nach Damaskus. Was tat der Norden? Nichts. Im Grunde weiß man seit 2006 von der dramatischen Situation in dieser Region.
Was war dann der Auslöser der Fluchtwelle?
Küberl: Dass die EU-Staaten 2014 die Lebensmittelhilfen für die Flüchtlingslager im Libanon und in Jordanien halbiert haben. Das hat ganz wesentlich zu den Wanderbewegungen Richtung Europa beigetragen hat.
In Europa gab es zunächst eine Welle der Hilfsbereitschaft...
Küberl: Der Auslöser für die damalige Flüchtlingspolitik waren die 71 Toten im Lieferwagen bei Parndorf. Es gab im Anschluss daran ein Treffen in Wien, bei dem Merkel ihre liberalere Vorgehensweise schon angekündigt hat. Sie war mit allen anderen Politikern überzeugt, dass man nur so ähnliche Tragödien verhindern könne. Österreich zeigte sich solidarisch. Es gab in der österreichischen Bundesregierung damals Momente der Willkommenskultur.
Das hat sich inzwischen geändert. Woher kommt diese Angst?
Küberl: Grundsätzlich ist Angst etwas ganz Natürliches. Das betrifft auch die Angst vor Fremden. Man kann mit dieser Angst auf unterschiedliche Weise umgehen. Einmal indem man etwas tut, sich mit diesen Menschen auseinandersetzt und sich für sie einsetzt. Das führt zur Ent-Ängstigung. Es gibt aber nicht wenige Menschen, die sich in der Angst suhlen. Das aber führt nicht zur Angstbewältigung, sondern zur Angstverinnerlichung.
Hängt diese Angst nicht auch damit zusammen, dass sich in puncto Integration so wenig tut? Was braucht es da?
Küberl: In jedem Fall braucht es den Respekt vor dem Anderen, eine Portion Neugier und schon auch eine Portion Mut. Dazu kommt viel Geduld. Das gilt für Inländer genauso wie für Flüchtlinge. Wichtig wäre, dass jeder Konventionsflüchtling einen Integrationsbegleiter hat, der mit ihm einen Integrationsplan erstellt. Das kann mitunter ganz schnell gehen. Natürlich ist es auch mit Kosten verbunden. Wenn man das aber nicht macht, verlängert sich das Problem um viele Jahre und kostet weitaus mehr.
Ich habe schon drei große Flüchtlingswellen erlebt, aber noch nie so viele Menschen, die sich engagieren und freiwillig mitarbeiten.
In Anlehnung an Merkels Spruch: Schaffen wir es wirklich?
Küberl: Wir leben Gott sei Dank in einer wohlhabenden Zeit und Gegend. Wir haben unglaublich viele Instrumentarien und Möglichkeiten, wie wir helfen und wie wir Dinge bewältigen können. Es ist eine schwierige Situation – das gebe ich zu. Aber wir sollten uns immer bewusst sein, dass wir das bewältigen können.
Geld alleine wird zu wenig sein. Was braucht es noch?
Küberl: Ich möchte auf drei Punkte verweisen. Erstens: Jeder, der zu uns kommt, ist ein Mensch. Der Herrgott mag ihn genauso wie mich. Das heißt noch nicht, dass alle, die zu uns kommen, auch hier bleiben können. Zweitens: Die Asylverfahren dauern viel zu lange. Da braucht es ein höheres Tempo, denn die Menschen befinden sich in einer unerträglichen Wartesituation. Und drittens: Integration und Wertevermittlung. Da kann es aber nicht um meine persönlichen Werte gehen, die ich anderen aufzwingen will, sondern ausschließlich um rechtlich verbindliche Werte. Etwa dass alle Menschen gleich sind, die Religionsfreiheit, die Gleichheit von Mann und Frau, Gewaltfreiheit in der Kindererziehung etc. Die spannende Frage dabei ist aber immer, ob wir die Werte auch so leben, dass jene, die zu uns kommen, sagen: So wie die hier leben, das ist toll und das möchte ich auch.
Ist das nicht auch eine Chance für uns, sich stärker auf die Werte und Wurzeln zu besinnen?
Küberl: Durch die größere Zahl von Fremden steht vieles auf dem Prüfstand. Sind unsere Werte nachvollziehbar? Halten sie dem Stand, was wir behaupten? Und vor allem: Wie erkläre ich anderen meine Werte? Denn man rechtfertigt und begründet sie ja nicht ständig vor sich selbst oder anderen. Das ist eine Chance und eine Herausforderung.
Tausende Menschen helfen freiwillig in der Flüchtlingsbetreuung. Wie beurteilen Sie dieses Engagement?
Küberl: Ich habe schon drei große Flüchtlingswellen miterlebt, aber noch nie so viele Menschen, die sich engagieren und freiwillig mitarbeiten. Im hintersten Dorf der Steiermark finden Sie Menschen, die mittun. Das ist eine neue Qualität.
Auf der anderen Seite schlägt die Angst immer öfter in Hass um. Wie kann man dem begegnen?
Küberl: Hass hat immer mit Faulheit zu tun. Denn man zieht Schlüsse ohne den Umweg des Denkens. Dort, wo man zu denken beginnt, wo man sein Gegenüber als Mensch wahrnimmt, kommt man auf eine andere Ebene als Hass. Das heißt nicht, dass man nicht miteinander diskutiert, anderer Meinung ist.
Oft wird damit argumentiert, dass es sich mehrheitlich um Wirtschaftsflüchtlinge handelt ...
Küberl: Es ist ja nicht so, dass die Menschen zu uns kommen, weil wir in ihren Augen ein Konsum-Paradies sind, sondern weil sie Sicherheit und Freiheit suchen. Der steirische Bischof hat mir Folgendes erzählt: Muslime, die zum Christentum konvertieren möchten, geben als Grund dafür immer wieder an, dass ihnen von Christen selbstverständlich geholfen wurde. Sie haben also Wertevermittlung konkret erlebt.
Flüchtlinge werden derzeit auch als Argument für Budgetprobleme angeführt. Man spricht von einer Obergrenze. Wie berechtigt ist das?
Küberl: Zunächst möchte ich betonen: Es gibt keine Obergrenze der Nächstenliebe. Was in der ganzen Debatte gerne verschwiegen wird: Von den 88.000 Menschen, die im Vorjahr gekommen sind, werden etwa 60 Prozent bleiben können. Diese sind für jedes Land eine gewaltige Chance. Die entscheidende Frage ist, ob wir nicht in Oberkärnten oder in anderen Gegenden Zuzug brauchen. Dafür muss man aber Integrationsmöglichkeiten bieten. Es gibt aber, und das möchte ich betonen, schon viele Bürgermeister, die sich sehr für Integration einsetzen und die Chancen erkennen.
Jetzt sollen aufgrund des Dublin- III-Abkommens Flüchtlinge nach Kroatien abgeschoben werden. Wie ist das zu beurteilen?
Küberl: Ich habe das Gefühl, dass man Dublin-III immer dann ausgräbt, wenn man einen anderen Staat ärgern will. Weil Kroatien viele Flüchtlinge durchgewunken hat, sollen die jetzt wieder ein paar zurücknehmen. Es ist nicht einzusehen, dass darunter viele sind, die schon sehr gut bei uns integriert sind, deren Kinder Schulen in Österreich besuchen. Wir sollten uns eher darum bemühen, dass diese integrationsbereiten Menschen hier bleiben und wir ihnen einen vernünftigen Neustart ermöglichen.
Zur Person:
Dr. hc. Franz Küberl wurde 1953 in Graz geboren. 1972 wurde er Diözesansekretär der steirischen Katholischen Arbeiterjugend. 1976 wechselte er nach Wien als Leiter der Katholischen Jugend Österreichs und Vorsitzender des Bundesjugendringes. 1982 wurde er Diözesanreferent des Katholischen Bildungswerkes Steiermark, vier Jahre später Generalsekretär der steirischen Katholischen Aktion. 1994 wechselte er als Direktor in die Caritas Graz-Seckau und wurde ein Jahr danach Caritas-Präsident. 2013 legte er dieses Amt zurück. Als steirischer Caritas-Direktor blieb er noch bis August dieses Jahres im Amt. Küberl ist Mitglied des ORF-Stiftungsrates.