Ein Arzt für das ganze Lesachtal
Was Walter Höhr, einziger Arzt im Lesachtal, Sommer wie Winter erlebt.
Schön, aber abgeschieden ist es, das Kärntner Lesachtal. Dazu passt, dass es nur einen einzigen Arzt für das ganze Tal gibt. Er versorgt die entlegenen Berghütten und Bergbauern ebenso wie die Talbewohner. Berg- und landwirtschaftliche Arbeitsunfälle im Sommer, Tiefschnee und Lawinen im Winter prägen seinen Alltag. Darüber berichtet Christine Weeber.

„Aber noch fehlt ein Wegweiser für Reisende und Wanderer, ein Begleiter und Hinweiser für Menschen, die Aufenthalt und Erholung suchen“, schreibt der bekannte Geschichtsforscher und Volkskundler, Thomas Tiefenbacher (1892-1970), im Jahre 1951 über seine Heimat, das Lesachtal. Mittlerweile ist sehr viel geschehen in diesem Kärntner Seitental, welches immer noch über eine steile Bergstraße erreichbar ist und dessen Orts- und Flurnamen an eine romanische und slawische Vorzeit erinnern.
Walter Höhr, aus dem Mölltal gebürtig, wirkt seit Ende 1988 als einziger Landarzt in diesem engen, abgeschiedenen, erzählenden Tal. „Ich wollte immer praktischer Arzt werden, zumal es damals die einzige freie Stelle in Kärnten war“, sagt er nach 27 Jahren. „Ich selbst bin im Gebirge aufgewachsen und lebe gerne in den Bergen. Das Lesachtal hat mich nicht abgeschreckt.“ Damals habe er nicht gewusst, was auf ihn zukomme: „Die einzelnen verstreuten Ortschaften im Gebirge des Lesachtales, die strengen und langen Winter – oft von Oktober bis Mai – mit Kälte und Schnee“, beschreibt Höhr. „Man braucht hier als Arzt eine gute Kondition und auf alle Fälle starke Nerven“, erläutert er, der mit seiner Familie in St. Lorenzen im Lesachtal lebt, wo sich seine Ordination und sein Wohnhaus auf einer Anhöhe befinden.
Tag und Nacht im Einsatz
Der Ordinationsablauf des einzigen praktischen Arztes im Lesachtal sei sehr vielgestaltig. „Ich bin mit allen möglichen medizinischen Fällen konfrontiert“, so Walter Höhr. „Es ist oft nicht leicht, da das nächste Krankenhaus etwa sechzig Kilometer weit – in Lienz oder Laas im Gailtal – entfernt ist. Wir leisten daher selbst viele unfallchirurgische Eingriffe. Ich bin gerne Unfallchirurg.“ Sein langjähriger Assistent, Helmut Unterüberbacher, steht ihm zur Seite. Wahrscheinlich die einzige männliche Ordinationshilfe in Kärnten. Der Sprengel von Walter Höhr reicht hinauf bis nach Ober- und Untertilliach in Osttirol und hinunter bis nach St. Jakob im Lesachtal. Er verfügt über etwa 800 Kassenpatienten.
Seit der Neuregelung der Dienste hat der Landarzt wieder etwas mehr Zeit für sich und seine Familie. In den letzten 27 Jahren hatte er fast keinen Urlaub. „Ich war Tag und Nacht im Dienst, weil ständiger Bereitschaftsdienst herrschte. Mit den Kollegen aus dem Gailtal habe ich die Wochentagsdienste geteilt“, so Höhr. Seit diese Wochentagsdienste neu geregelt sind, habe er „mehr Freiheit und Spielraum gewonnen“.
Aus seinen Anfängen bei der Bergrettung berichtet Höhr: „Die Zeit vor der Hubschrauberbergung war sehr aufregend. Damals mussten wir verirrte Wanderer im Gebirge retten, oder man hat verunglückte Kanufahrer aus der Gail ,gefischt‘. Das waren abenteuerliche Rettungsleistungen, die jetzt viel einfacher geworden sind.“
Unter die Lawine gekommen
Die Bergrettung ist hier vor Ort. Es gibt in St. Lorenzen eine Ortsstelle, die immer aktiviert wird; bei Notfall erhalten alle Beteiligten ein SMS, dass es mit der Hilfeleistung von freiwilligen Helfern wieder losgeht. Der sogenannte „Jahrhundertschnee“ vor zwei Jahren bleibt für Höhr in Erinnerung. „Wir waren tagelang von der Umwelt abgeschnitten und mussten oft zu Fuß oder mit einem Allradfahrzeug zu den Patienten. Leider herrschte ein großer Mangel an Medikamenten“, erinnert er sich. „Ich musste das Tal allein medizinisch versorgen, ohne Hilfe von außen.“ Damals ist er in der Mattlinger Gegend mit dem eigenen Auto von einer Lawine verschüttet worden. Höhr: „Das waren Grenzerfahrungen. Auch als wir 1990 einen Säugling mit Lungenentzündung in der Luggauer Gegend ins Tal beförderten, sind die Bergrettung und ich mit einem Einsatzfahrzeug unter eine Lawine gekommen. Aber: Der Säugling wurde gerettet.“
„Es war für mich eine sehr große Freude, als sogenannter ,Zuagraster‘ gut aufgenommen zu werden“, sagt Höhr. „Der Lesachtaler ist ein sehr ausdauernder und harter Menschenschlag, der nur in die Ordination kommt, wenn es sich um Extremfälle handelt“.
Wenn sich heute irgendwo ein Unfall im Gebirge ereignet, ist Walter Höhr mit der Bergrettung zur Stelle. „In Zeiten der Hubschrauberbergung ist dies weniger geworden. Es gab Zeiten, als wir in meiner Ordination immerhin etliche Hausgeburten hatten. Ich war Geburtshelfer, und die Kinder sind hier auf die Welt gekommen.“ Früher gab es nicht zu jedem Bauernhof einen Weg. „Vor 25 Jahren haben wir oft Patienten mit einem Hornschlitten ins Tal gebracht und mit der Rettung weiter ins Krankenhaus.“
Und heute? Das Tal wird immer populärer und wird als „naturbelassenstes Tal Europas“ bezeichnet. Man schreibt Bücher. Man setzt auf den sanften Tourismus, auf „kleine Einheiten, keine großen Hotels, wie es dem Tal angepasst ist“. „Dies entspringt der Sehnsucht nach der Natur, nach Ruhe und Geborgenheit. Der Trend ist: Zurück zur Natur“, sagt Höhr. Was wünscht er sich persönlich für „sein“ Lesachtal und für die Menschen, die hier leben? „Ich würde mir einen Nachfolger wünschen, da es absehbar ist, dass ich irgendwann einmal in Pension gehen werde. Weiters hoffe ich, dass die Abwanderung durch politische Maßnahmen gestoppt wird. Es ist eine Überalterung der Bevölkerung vorhanden, und die Wirtschaft bedarf eines gewissen Aufschwungs.“ Das Handy läutet. Walter Höhr wird wieder zum Einsatz gerufen.