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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Durch geglückte Abschiede wieder zum Leben finden

Herwig Oberlerchner, Psychotherapeut und Psychiater, zu Abschied, Trauer und Allerheiligen. Ein Gespräch mit Georg Haab.

Allerheiligen/Allerseelen und die notwendige Aufarbeitung der NS-Euthansie in Kärnten spricht der Klagenfurter Psychotherapeut und Psychiater Herwig Oberlerchner im aktuellen “Sonntag“-Interview (© Foto: Georg Haab)
Allerheiligen/Allerseelen und die notwendige Aufarbeitung der NS-Euthansie in Kärnten spricht der Klagenfurter Psychotherapeut und Psychiater Herwig Oberlerchner im aktuellen “Sonntag“-Interview (© Foto: Georg Haab)
Primar Herwig Oberlerchner (© Foto: Haab)
Primar Herwig Oberlerchner (© Foto: Haab)

Was ist als Psychiater und Psychotherapeut Ihr Zugang zum Thema Abschied und Trauer?
Oberlerchner: In beiden Funktionen bin ich täglich mit Trauer und Trauerprozessen konfrontiert. Abschiednehmen ist eines der Grundprinzipien unseres Lebens. Gelungenes Abschiednehmen, gelungene Trauerprozesse sind Bedingungen für Weiterentwicklung. Und dieses Sich-Verabschieden braucht bestimmte Rahmenbedingungen.

Welche sind das?
Oberlerchner: Ein Trauerprozess kann in Stadien eingeteilt werden. Wenn sie konstruktiv durchlaufen werden, ist danach Weiterentwicklung möglich. Wenn sie behindert werden, kann es zu einer pathologischen Trauerreaktion kommen. Das begünstigt das Auftreten psychischer Erkrankungen, insbesondere von Depressionen, Angsterkrankungen und sekundär von Suchterkrankungen, schwerpunktmäßig Alkoholabhängigkeit. Das sind die Patienten, denen wir häufig begegnen: Menschen, die in einem Trauerprozess gefangen sind.

Wie kann es dazu kommen?
Oberlerchner: Nehmen wir ein Beispiel: Ich verliere plötzlich einen lieben Menschen durch Krankheit oder Unfall. Dann bin ich wie gelähmt, überwältigt – das ist die sogenannte Betäubungsphase. Die zweite ist, dass nach so einem Verlusterlebnis – Stunden bis Tage danach – heftige Emotionen wie Anklage, Wut, Enttäuschung auftreten, verbunden mit Schlafstörungen, massiven Ängsten. Wenn ich in diesen beiden Phasen kein soziales Umfeld habe, das mich stützt, auch nicht auf den Krisendienst oder ein Beratungszentrum zurückgreifen kann, besteht ein erhöhtes Risiko, dass das in einen pathologischen Trauerprozess mündet.

Wie geht der Trauerprozess weiter?
Oberlerchner: Die dritte ist die Ambivalenzphase: Einerseits will man sich von dem geliebten Menschen lösen, sich verabschieden, das Leben wieder fortsetzen. Die andere Tendenz ist, diesen Menschen wiederzufinden: Man kramt in Erinnerungen, riecht an der Kleidung, redet mit anderen über ihn. In diesem Stadium ist es besonders wichtig, Gewissheit ob des Todes zu haben. Wir sehen pathologische Trauerprozesse vor allem dort, wo es keine Gewissheit bezüglich des Todes gibt, keinen Gegenstand oder Ort, an den die Trauer gebunden werden kann.

Wann sprechen Sie von einem „gelungenen Trauerprozess“?
Oberlerchner: Die vierte Phase ist der geglückte Abschied: Das Anerkennen des Verlustes, Neuorganisation und Entwicklung. Da, glaube ich, spielen Lebenseinstellung, Philosophie, Religion, Spiritualität eine Rolle, weil man ja den Schicksalsschlag in ein Gefüge einpassen muss: dass es Klarheit gibt, dass es nachvollziehbar wird. Hier sind Psychotherapie und Seelsorge zentral wichtig. Man kann kein Zeitlimit setzen, aber grundsätzlich braucht man für diese Dinge ein halbes oder ein Jahr Zeit. Unsere Seele braucht das, um sich zu entwickeln, zu verdauen. Früher wurde toleriert, dass der Mensch ein Jahr Auszeit hatte, ein Jahr Schwarz trug. In unserer schnelllebigen Gesellschaft ist oft zu wenig Zeit. Das verhindert potentiell das Gelingen von Trauerprozessen.

Ich glaube, dass die Kirche in der Trauerarbeit einen großen und wichtigen Beitrag leistet. Ohne sie würde ein gesellschaftliches Vakuum entstehen.

Ungewissheit über den Tod, die die Trauer blockiert: Ein Problem vor allem der Kriegsgeneration?
Oberlerchner: Das reicht bis in die heutige Zeit hinein. Millionen von Menschen sind im Krieg gestorben, wurden vermisst. Hier knüpfen unsere Bestrebungen zu den Opfern der Psychiatrie im NS-Euthanasieprogramm an. Wir wollen die Familien aufklären und ihnen Gewissheit geben: Was ist mit den Angehörigen, mit dem Onkel, mit der Tante passiert in dieser Zeit? Wo sind sie hingekommen? Wo vermuten wir, dass sich ihre letzten Stunden abgespielt haben? Was wissen wir bis zu diesem Zeitpunkt aus der Biografie? Diese Rekonstruktionsarbeit ist ganz wichtig, um Abschiednehmen und Trauer zu ermöglichen.

Wieso geschieht das erst heute?
Oberlerchner: Gerade im Kontext des Nationalsozialismus und der Euthanasie gibt es mehrere Gründe dafür. Psychische Erkrankung war damals durch die Erbgesundheitsgesetze eine extreme Stigmatisierung, die Familien wollten oder durften darüber nicht sprechen. Das Zweite ist: Die Schicksale der Opfer wurden verheimlicht und verschleiert. Bei Euthanasieopfern wurden in den Krankengeschichten falsche Orte angegeben, „Trostbriefe“ der Behörde kamen aus einer Gegend, wo der Mensch nie war. Und schließlich wollte die damalige Generation mit diesem Thema abschließen: Es war die Zeit des Wiederaufbaus – arbeiten, Familie gründen und sich nicht an die alten Zeiten erinnern lassen. Aber diese Wunden schwären, sie heilen nicht. Wenn der Trauerprozess nicht zu Ende gegangen ist, bleibt die Wunde ein unerledigter Auftrag für die Folgegeneration.

Ist es möglich, alte Trauerprozesse in der Gegenwart zu einem guten Ende zu bringen?
Oberlerchner: Ein unbewältigter Trauerprozess wird von einer Generation auf die nächste weitergereicht. Die traumatisierte Mutter begegnet ihrem Kind anders als die Mutter, die kein Trauma erleiden musste. Das Kind spürt das: Es ist atmosphärisch verfestigt, dass es bestimmte heikle Themen gibt, bestimmte Einstellungen der Mutter, ausgeklammerte Lebensbereiche. Das wiederum formt sich im Kind zu einem abgegrenzten, ausgeklammerten Bereich des Seelenlebens; zu einem Phantom, einem Familien-Tabu. Erst die zweite, dritte, vierte Generation ist vielleicht mutig genug, diese Phantome zu beleuchten, sie wieder zum Leben erwachen zu lassen und dann zu verabschieden.

Wie ist es möglich, dass man NS-Opfern erst einen Ort der Trauer verschaffen muss, während eine Ulrichsbergfeier lange Tradition hat?
Oberlerchner: Traumatisierte Menschen ziehen sich zurück und gehen nicht an die Öffentlichkeit. Es fehlen ihnen Kraft, Mut, Energie, während die Verleugner ihrer eigenen Verantwortung oft in den Gegenangriff gehen und mutig-extrovertiert ihre Gedankenwelt weitergeben. Auch das ist ja in Wirklichkeit ein blockierter Trauerprozess, und es wäre heilsam, das eigene Tun bzw. das der Eltern oder Großeltern, den Verlust von menschlicher Kultur betrauern zu können. Hier könnte die Gesellschaft positiv Einfluss ausüben.

Wie erleben Sie Allerheiligen und Allerseelen?
Oberlerchner: Allerheiligen und Allerseelen sind die Verknüpfung von Trauer und Hoffnung. Ich gehe gerne jedes Jahr auf den Friedhof. Das ist eines der Rituale, die für uns alle wichtig sind, auch wenn unsere Trauerprozesse vielleicht schon zu Ende gebracht worden sind. Es ist wichtig, dass sich die Familie trifft, dass man gemeinsam wohin geht und sich erinnert; dass man dort vielleicht wieder anknüpft, indem man gemeinsam einen Spaziergang macht oder einen Kaffee trinkt. Auch unsere Form der Begräbnisrituale halte ich für gut und wichtig: Die Sichtbarkeit des Todes, den Toten noch einmal anschauen, das Dabei-Sein bei der Grablegung sind hilfreich, um diesen Abschied gut zu durchstehen. Ich glaube, dass die Kirche in der Trauerarbeit einen großen und wichtigen Beitrag leistet. Ohne sie würde ein gesellschaftliches Vakuum entstehen. Die neuen Medien öffnen aber auch Möglichkeiten, unsere traditionellen Trauerrituale durch neue zu ergänzen.

 

 

TIPP:

Ausstellung „NS-Euthanasie in Kärnten“: Landesarchiv, St. Ruprechter Straße 7, Klagenfurt (nur mehr bis 2. November). Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag, 8.00 bis 12.00 und 13.00 bis 15.30 Uhr, Freitag 8.00 bis 12.00 Uhr.

Zur Person:

Mag. Dr. Herwig Oberlerchner, Psychiater und Psychotherapeut, ist Primar der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee.