Die Zukunft des Nahen Ostens
Nahostexpertin Karin Kneissl über Christenverfolgung, Flüchtlingsströme und was die EU falsch macht.
Karin Kneissl hielt kürzlich auf Einladung der KPHE in Klagenfurt einen Votrag über den Nahen Osten. Wie es dort weitergehen könnte, analysiert sie im aktuellen SONNTAG-Interview.


Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht nach Europa. Die meisten kommen aus Syrien. Dort ist die Situation unklar. Russland unterstützt Präsident Assad. Der Westen ist strikt gegen den Diktator ...
Kneissl: Die russische Außenpolitik ist im Orient klarer als die des Westens. Eine Konstante ist der Zugang zum östlichen Mittelmeer, weiters geht es Moskau um die Eindämmung islamistischer Gruppen. Russland sieht sich unter Putin auch als Schutzmacht der orientalischen Christen. In der Sowjetunion spielte das natürlich keine Rolle.
Haben Sie einen Einblick, wie es den Christen aktuell geht?
Kneissl: Im Irak haben die Christen einen enorm hohen Blutzoll gezahlt. Bis 2003, dem Sturz Saddam Husseins, gab es offiziell etwa 1,2 Millionen Christen im Irak. Schon 2008 sprach man nur noch von 600.000. Als der Islamische Staat (IS) im Nordirak seine Massaker verübte, reduzierte sich die Zahl noch einmal dramatisch. Ich habe in Beirut chaldäische Christen getroffen, die um ihr Leben gerannt sind. Denen ist Grauenhaftes widerfahren. Da ist mit dem Kalifat des IS eine wahre Schreckensherrschaft eingezogen. Dort, wo der IS regiert, werden die Christen entweder als Dhimmi (= „Beschützte“) mit höheren Steuerabgaben geduldet oder eben massakriert. Aber aus diesen Gebieten gibt es keinerlei Berichterstattung. Die Letzten, die von dort berichteten, wurden entführt, enthauptet oder sonst wie ermordet.
Warum gab und gibt es keinen Plan, wie man dem IS Herr wird und was danach kommen soll?
Kneissl: Der Westen war und ist noch immer in einem Dilemma. Man hat den Irakkrieg in voller Überzeugung der moralischen Überlegenheit geführt, aber eigentlich ohne Plan. Man schwang stets die Moralkeule im Namen der Menschenrechte oder Demokratie. Aber von welcher Demokratie reden wir? Die Westminster-Demokratie aus Großbritannien oder den USA unterscheidet sich schon wesentlich von dem, was wir in Mitteleuropa darunter verstehen. Und man kann weder das eine noch das andere Modell einfach eins zu eins woanders hin verpflanzen. Im Orient hatten wir immer das Prinzip der Konsenssuche. Man palavert so lange, bis sich alle unter Wahrung ihres Gesichtes auf einen Konsens einigen können.
Fünf Jahre Bürgerkrieg in Syrien – kann man sagen, wie es weitergeht?
Kneissl: Nein, denn wir haben keine objektive Berichterstattung aus diesem Gebiet. Die russische Intervention hat eine neue Dynamik gebracht. Wohin die führt, ist noch schwer absehbar. Auch den Effekt der neuen militärischen Koalition, die sich nach den Anschlägen von Paris gebildet hat, muss man erst einmal abwarten. Es zeichnet sich eine Entschlossenheit vieler Staaten ab, Syrien zu stabilisieren und es nicht mehr als Aufmarschgebiet des Terrorismus zu fördern. Genau dieses hat auch die Türkei zu verantworten. Ich bin relativ zuversichtlich, dass der UN-Fahrplan zu weiteren Waffenstillständen führen wird. Jedenfalls wurde die Frage zum Verbleib Assads vorerst ausgeklammert.
Millionen Syrer sind auf der Flucht. Die meisten davon in den umliegenden Staaten, aber viele kommen auch zu uns. Mitunter entsteht der Eindruck, Syrien wird entvölkert.
Kneissl: Da sollte man schon die Kirche im Dorf lassen. Es gibt 24 Millionen Syrer. Vier Millionen sind als Flüchtlinge jenseits der Staatsgrenzen. Zwölf Millionen sind Binnenflüchtlinge. Der wohlhabende Mittelstand verließ das Land schon vor 30 Jahren aufgrund der Repression Assads. Dann gibt es den Mittelstand, der sich erst durch die Assad-Diktatur gebildet hat. Und dann jene, die immer ausgeharrt haben, etwa Händler in den alten Städten.
Aber sind es nicht gerade die besser Gebildeten, die zu uns kommen?
Kneissl: Also der Mittelstand lebt noch immer im Land. Ich habe schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass es gerade nicht die besser Ausgebildeten sind, die kommen. Dafür bin ich damals heftig kritisiert worden. Heute wissen wir, dass ich damals gefühlsmäßig aufgrund meiner Begegnung mit Flüchtlingen recht hatte. Man kann das schon aufgrund der Sprache feststellen. Nur ein Drittel hat eine Pflichtschule absolviert und nur ein geringfügiger Teil hat eine akademische Ausbildung. Die besser ausgebildeten Syrer, die ich kürzlich im Nahen Osten getroffen habe, sagten ganz deutlich: „Ich kann kein Deutsch, ich kann kein Schwedisch – also was soll ich dort?“ Diese bleiben irgendwo zwischen dem Libanon und Syrien und warten nur darauf, dass sie wieder zurück können und ihre ehemaligen Unternehmen wieder aufbauen.
Angesichts der von Ihnen skizzierten Ausbildung der Flüchtlinge fragt man sich doch, wie Integration funktionieren kann?
Kneissl: Das wird schwierig. Ich hatte in den 80er-Jahren mit Menschen zu tun, die aus dem Iran oder dem Irak geflohen waren. Sie wollten nach Europa, weil sie hier in einem aufgeklärten Umfeld frei sein konnten von all den Zwängen, die ihnen daheim auferlegt wurden. Auch als ich in den 80ern in Syrien studierte, herrschte ein anderes Straßenbild, die Syrerinnen waren unverschleiert, Frauen waren im öffentlichen Raum viel präsenter. Das gründete auch auf der damals starken Allianz mit den Comecon Staaten. In den vergangenen Jahren hat sich das umgedreht und die Zahl der verschleierten Frauen nahm rapide zu. Einige, die jetzt kommen, sind von einer archaisch religiösen Haltung geprägt. Heute bestehen viel stärkere kulturelle Gräben als noch vor 20 oder 30 Jahren.
Wenn die Perspektiven der Menschen dort schon bisher sehr eingeschränkt waren, werden wohl nur wenige zurückkehren wollen?
Kneissl: Derzeit gibt es viele, die zurück wollen, weil es hier doch nicht so toll ist, wie sie es sich vorgestellt haben. Ich denke, da war das messianische Heilsversprechen der deutschen Regierung nicht gerade hilfreich. Nun kommen die Menschen mit dieser Heilserwartung, dass ihnen hier alles kostenlos geliefert wird. Diese überzogenen Erwartungen führen zu Ungeduld. Einige nehmen die 350 Euro Startgeld und lassen sich heimfliegen. Man weiß aber nicht, ob es nicht auch zu anderen Reaktionen kommen wird.
Die EU setzt derzeit auf die Türkei. Wie beurteilen Sie diese Taktik?
Kneissl: Das ist fatal! Es ist ein Kotau vor einer Diktatur. Uns ist völlig egal, wie Erdogan in seinem Land vorgeht. Die Türkei ist ein Land mit der höchsten Zahl an politischen Häftlingen. In Brüssel spricht kaum jemand vom Niedergang des Rechtsstaates in der Türkei. Ich halte das seitens der EU für absolut mies. Wir sollten als EU-Bürger auf die Straße gehen und dagegen protestieren.
Was wäre Ihr Rat an die politisch Verantwortlichen?
Kneissl: Mit Russland auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten! Dann braucht es eine klare Politik gegenüber den Golfstaaten. Man darf sich denen gegenüber nicht so verkaufen, wie dies Frankreich mit Katar gemacht hat. In der Flüchtlingsfrage muss man zwischen Wirtschafts- und politischen Flüchtlingen unterscheiden. Man darf diese Entscheidung nicht den Polizisten an der Grenze von Mazedonien überlassen.