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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Die Zeichen der Zeit deuten

Neue Sonntag-Serie mit Jean Vanier

 (© Foto: Olivier Peix)
(© Foto: Olivier Peix)

Die Leserin/der Leser möge langsam lesen, damit diese Überlegungen Zeit haben, ins Herz zu sickern – diese adventliche Einladung stellt Jean Vanier seinen Gedanken voran.

Ich wähle als Einstieg in unsere Überlegungen – und auch in den Lauf der Geschichte – einen konkreten und greifbaren Punkt: die Demütigung. Dabei gehe ich von einem Buch aus, das ich gerade lese. Nachdem ich den Film „Von Göttern und Menschen“ gesehen habe, der von den Trappistenmönchen in Tibhirine handelt, lese ich jetzt ein Buch über algerische Märtyrer. In dieser Geschichte habe ich einen Schlüssel gefunden, der mir die Situation der Christen in unserer Zeit verstehen hilft. 

Demütigungen

Was mich berührt: Die Kolonialisierung und Entkolonialisierung haben im Land ein großes Gefühl der Erniedrigung hinterlassen. Wenn ich Erniedrigung sage, meine ich nicht, dass jemand gekommen ist, um den anderen zu erniedrigen, und danach wissen wir: Der ist Täter, der andere Opfer. Ich spreche von Umständen, die im Laufe der Geschichte die Demütigung einer Gruppe, einer Kirche, einer Kultur mit sich gebracht haben, die vorher in herrschender oder zumindest anerkannter Position war.

Die Franzosen haben in Algerien viel Gutes getan, Schulen gebaut, Krankenhäuser, viele schöne Dinge. Darin war aber die unterschwellige Botschaft, dass die Algerier das alleine nicht zustande gebracht hätten. Aus dieser Demütigung sind Wut und Revolte entstanden, Depression und das Gefühl, Opfer zu sein. Mit der Opferrolle kann man leben und davon profitieren, oder aber man revoltiert. Dann kam die Gewalt des Algerien-Krieges: Frankreich hat nicht vor Folter zurückgeschreckt, die Algerier haben sich durchgesetzt, die Franzosen wurden verjagt. Damit waren die Franzosen die Gedemütigten, und mit ihnen die Kirche. Alles, was schön war, die guten Werke, die die Christen aufgebaut hatten, wurden mit ihnen weggefegt. Die Kirche, die vorher ganz oben auf der sozialen Leiter war, fand sich nun ganz unten wieder. Sie erlebte die Erniedrigung, wie sie die Algerier vorher durch die Kolonialmacht erlitten hatte. In dieser Situation lernte die Kirche die Bedeutung von „Begegnung“.

Von Erniedrigung zu Begegnung

Erniedrigung führt in die Opferrolle, zum Aufbegehren, aber auch zum Wunsch, dem anderen auf Augenhöhe zu begegnen, von Person zu Person. Begegnung kann zum „Sakrament der Begegnung“ werden. Diese Schlüsselszene der algerischen Kirche scheint mit ein wesentlicher Schlüssel, auch die Geschichte der Kirche als Ganzes zu verstehen. Ich glaube, dass wir gerade heute dazu gerufen sind, als Gläubige dementsprechend zu leben. Es ist nicht zu leugnen, dass die Kirche heute eine Zeit der Demütigung erlebt. Da war der Skandal rund um die Pädophilie. Diese Demütigung kann Gelegenheit sein, eine ähnliche Entdeckung zu machen wie die algerische Kirche. Wenn wir uns nicht darauf versteifen, dass die einzige Sendung aller Gläubigen, Priester wie Laien, die einzige Art, Gutes zu tun, die „Bekehrung“ aller Menschen zum christlichen Glauben ist.

Das „Sakrament der Begegnung“ fordert, dass ich in Jesus bin und er in mir. Es braucht eine Transparenz, eine Reinigung unseres Lebens: nämlich dass wir nicht dazu da sind, den anderen zu verändern und zu bekehren, sondern ihm mit Demut und Respekt zu begegnen. Das „Sakrament der Begegnung“ lässt Jesus gegenwärtig werden, der „sanft und von Herzen demütig“ ist. Begegnen kann man einander nur als Personen; das setzt voraus, dass man sich als gleichwertige Personen anerkennt, sich vertraut. Ich habe nachgelesen, was das Konzil zur Person sagt: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“ Diese Worte sind sehr stark. Als ich neulich bei einer Begegnung diesen Text zitierte, hat mir ein Teilnehmer gesagt, dass er das noch nie gehört habe. Dieses persönliche Gewissen ist kein Gesetz und leugnet nicht das Lehramt. Der selige Henri Newman sagte, dass das Lehramt da sei, den Gläubigen zu helfen, ihr Gewissen in der Wahrheit zu bilden und ihm zu folgen.

 

Aus: Jean Vanier, Les signes des temps à la lumière de Vatican II, éd. Albin Michel.