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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Die Kirche und die Kärntner Seele

Der Soziologe und Theologe Johannes Thonhauser über Kärntner Eigenheiten und das nachvollziehbare Wachsen von Mentalitäten

Foto: Wallner
foto: Kirchlich Pädagogische Hochschule Graz


Kärnten ist anders, und die "Kärntner Seele" wurde schon von Erwin Ringel beschrieben. Sie haben versucht, das in Zusammenhang mit der Kirche im Land zu setzen?
Thonhauser: Ziel meiner Arbeit war nicht, irgendwelche Verbesserungsvorschläge zu bringen. Ich habe für mich selbst sehr viele Fragen gehabt. Es ging mir darum, erst einmal für mich selbst ein konsistenteres Bild zu zeichnen, in dem sichtbar wird, wie Dinge miteinander zusammenhängen. Die Rolle der Kirche in Kärnten kann nicht getrennt vom Minderheitenkonflikt, von der politischen Lage und ökonomischen Dingen gesehen werden. Das alles ist miteinander in Verbindung.

Was waren Ihre wichtigsten Ausgangsfragen?
Thonhauser: Meine Eltern hatten eine Landwirtschaft und waren Gastwirte. Da hört man relativ viel, Stichwort Stammtischdebatten. Das war für mich manchmal sehr ambivalent, denn ich bin im Stiftsgymnasium St. Paul zur Schule gegangen und bin dort katholisch sozialisiert worden. Aber wenn die Bauern angefangen haben, über die Kirche zu sprechen, spürte man manchmal fast schon Hass. Als ich in Graz studiert habe, wurde immer wieder stirnrunzelnd gefragt: Du bist aus Kärnten – was ist denn da bei euch los? Das waren die großen Zeiten von Haider, BZÖ, Ortstafelstreit: alles Dinge, die man von außen nicht verstanden hat. Erst durch das Studieren weiterer Literatur haben sich die Puzzleteile zusammengefügt, und ich bin auf die für mich sehr überraschende Aussage von Historikern gestoßen, dass Kärnten ein sehr antikirchlich geprägtes Land ist. Als Soziologe habe ich mir dann die diversen empirischen Daten angeschaut.

Welche Zusammenhänge zeigen sich da?
Thonhauser: Vieles hängt mit einer generellen Skepsis gegenüber Eliten zusammen: Es ist nicht schwer, über die Regierung in Wien zu schimpfen und über die Bürokraten in Brüssel, oder eben über die Amtskirche in Rom. Es sind immer die da oben, die so ein abstraktes Feindbild sind.

Und Kirche wird mit Obrigkeit assoziiert?
Thonhauser: Genau. Mentalitätsgeschichtlich kann man sehr schön sehen: In Oberkärnten, wo die Zentren der Geheimprotestanten waren, die mit widerwärtigen Methoden verfolgt worden sind – die Gegenreformation in Kärnten war ja brutal, aber auch erfolglos –, sind bis heute die Hochburgen der Protestparteien. Man findet in vielen der sogenannten Toleranzgemeinden eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an FPÖ-Wählern. Das hat bitte nichts damit zu tun, dass evangelisch gleich rechts wäre, sondern es gibt mentalitätsgeschichtlich einen gewissen Habitus, der sich in diesem Milieu entwickelt hat: Es waren ja Kirche und Staat, die die Kärntner damals drangsalierten und ihnen ihre Freiheit entzogen: die Glaubensfreiheit, aber auch das Recht, ihren Grund zu bewirtschaften.

Und Sie glauben, dass das bis heute nachwirken kann?
Thonhauser: Das lässt sich weiter nachvollziehen über die Zeit der nationalen Radikalisierung im 19. Jahrhundert, wo plötzlich der nationale Konflikt hineinspielt, der vorher überhaupt keine Rolle spielte, und geht weiter in die dreißiger Jahre: Der Ständestaat wird ausgerufen mit seinem politischen Zentrum in Wien – wieder ein autoritäter Staat mit der Kirche im Schlepptau, und plötzlich werden wieder Dinge vorgeschrieben, die stark an die Zeit des Geheimprotestantismus erinnern. Und siehe da, der illegale Nationalsozialismus verbreitet sich, wir haben in Kärnten 1933 doppelt so hohe NSDAP-Zahlen wie im Rest Österreichs. Als die Nazis dann verboten wurden, fühlten sie sich als zu Unrecht von Kirche und Staat Verfolgte, die Gerechtigkeit suchten.

Eine von Ihnen zitierte Studie zeigt: Die Religiosität ist in Kärnten und Wien am niedrigsten. Dagegen halten die Wiener Katholiken die Kirche dennoch für kompetent, in verschiedenen Lebensfragen Auskunft zu geben, die Kärntner aber nicht. Worauf führen Sie das zurück?
Thonhauser: Die stärkste Ablehnung gab es in Kärnten auf die Frage, ob die Kirche für das familiäre Leben etwas zu sagen hat. Das hat ganz stark zu tun mit der Kirche als Moralpredigerin, die in Kärnten auf ein sehr stark ländlich geprägtes Gebiet getroffen ist mit vielen Keuschlern, vielen Dienstboten. In der Soziologie bezeichnet man das als Landproletariat: Typisch dafür ist z. B., dass man in diesem Milieu, obwohl katholisch, tendenziell nicht Schwarz wählt, weil man nichts mit den Großbauern, Unternehmern und den kirchlichen Moralpredigern anfangen kann, die man mit den Schwarzen assoziiert. Vor allem in Südkärnten ist die Sozialdemokratie sogar in Zeiten türkiser Höhenflüge stark geblieben. Kärnten ist seit Beginn der Aufzeichnungen das Bundesland mit der höchsten Rate an unehelichen Kindern. Das hat klar damit zu tun, dass das Dienstbotenmilieu nicht heiraten durfte. Diese Haltung hat sich als selbstverständliche mentalitätsgeschichtliche Konstante etabliert, auch wenn es diese Dienstboten nicht mehr gibt.

Das heißt: Die Kirche hat dazu nichts zu sagen, weil sie das reelle Leben nicht verstanden hat?
Thonhauser: Es hat auch mit dem Leben der Kleriker zu tun. Viele Quellen berichten, dass im Kloster Soundso Konkubinen sind, dass der und der Priester ein uneheliches Kind hat usw. Damit konnten die Priester selbst mit ihren Forderungen nie glaubwürdig sein: Entweder sie waren rigide in der Forderung, dann waren sie von einer anderen Welt, oder sie haben die eigenen Forderungen durch ihren Lebensstil untergraben.

Besonders beim Kapitel zur Gegenreformation ist mir aufgefallen, wie sehr die Bevölkerung sich Druck und Zwang ausgesetzt sah, aber immer das Gefühl hatte, nicht verstanden worden zu sein. Sehen Sie das auch so?
Thonhauser: Das hat auch mit den beschränkten pädagogischen Mitteln der damaligen Zeit zu tun. Vor 300, 400 Jahren war man im Alltag viel gewalttätiger, die Erziehungsmethoden waren eine schreckliche Sache. Man war brutal und offensichtlich nicht fähig, auch Katechese in einer didaktisch reflektierten Weise zu betreiben. Von daher die Abneigung gegen „die da oben“ in Wien und auch in Rom. Man muss aber auch sehen, dass es in Kärnten ein Autoritätsverständnis gibt, das sehr persönlich und sehr emotional geprägt ist. Meines Erachtens ist diese feudale Logik vom Herren und Untertanen bis heute präsent. Das spiegelt sich im immer wiederkehrenden Begriff der Treue, Heimattreue usw.: Damit wird ein Loyalitätsdruck auf die eigene Gruppe, also „nach innen“ aufgebaut, der umso höher ist, je stärker man Bedrohungen „von außen“ wahrnimmt. Es gibt soziologische Untersuchungen, wie sich das in der sogenannten Freunderlwirtschaft, dem Nepotismus, ausdrückt, der in der Kärntner Politik mindestens bis vor Kurzem gang und gäbe war bzw. ist. Also dass man die Dinge über die persönlichen Beziehungen regelt und nicht über die formal vorgegebenen Gesetze.

Was liegt Ihnen bei dieser ganzen, doch sehr komplexen Thematik noch am Herzen?
Thonhauser: Erst wenn ich Zusammenhänge erkenne, verstehe ich, warum Dinge so sind, wie sie sind – und kann dann viel sensibler damit umgehen.

Interview: Georg Haab

Zur Person: MMag. Dr. Johannes Thonhauser, geboren 1981 im Lavanttal, studierte Soziologie, Geschichte und Theologie. Er forscht und lehrt am Standort Klagenfurt der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Graz.
Buchtipp: Johannes Thonhauser, Die Kirche und die „Kärntner Seele“. Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938. Verlag Böhlau (2019), 398 Seiten, gebunden, € 52,00
Das Buch ist aber auch – gratis – als Download verfügbar unter:
www.oapen.org