Der Tod verweist uns auf den Sinn des Lebens
Der international anerkannte Klagenfurt Palliativ-Mediziner Rudolf Likar zu Krankheit, Tod und wirklicher Lebensqualität
Palliativ-Mediziner Rudolf Likar zu Krankheit, Tod - und was sie uns zur Lebensqualität sagen. Ein Gespräch mit Georg Haab


Palliativ-Medizin – was ist das?
Likar: Palliativ-Medizin beschäftigt sich mit schwerkranken Menschen, bei denen das Lebensende vorhersehbar ist. Das kann sehr nahe sein oder in ein paar Jahren, jedenfalls aber ist eine Heilung der Krankheit nicht mehr das Ziel der Behandlung. Hauptsächlich haben wir mit Tumor-Patienten und Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu tun, aber auch immer mit Patienten, die an einer schweren Lungenkrankheit im letzten Stadium leiden, an schwerer Herz-Insuffizienz oder Muskelschwund.
Wenn keine Heilung mehr möglich ist: Was ist dann die Aufgabe der Palliativ-Medizin?
Likar: Der Begriff kommt vom lateinischen „pallium“, das heißt Mantel. Die Aufgabe der Palliativ-Medizin ist, den unheilbar kranken Menschen zu ummanteln: ihm einen schützenden Mantel aus verschiedenen Disziplinen umzulegen, indem man ihn von medizinischer Seite so betreut, dass er keine Schmerzen leidet und sein Leiden gelindert wird; indem er auch von der pflegerischen und von der psychologischen Seite her betreut wird, dazu sozialarbeiterische Hilfestellung erhält und auch das Angebot spiritueller Unterstützung erhält.
Was ist das Ziel der palliativen Behandlung?
Likar: Es ist eine Grundgefahr, dass wir die eigenen Wünsche und Vorstellungen in den Patienten hineinprojizieren. Deshalb ist es grundlegend, jeden Patienten zu fragen, was er will und ehrlich mit ihm umzugehen. Die Wünsche, die sie dann tatsächlich äußern, sind oft sehr einfacher Art. Ich denke da z. B. an einen Patienten, der schwer lungenkrank war und große Schmerzen hatte. Gegen die Schmerzen konnten wir ihm einen Katheter zum Rückenmark legen. Sein großer Wunsch war, Ostern zu Hause feiern zu können. In diesem Sinne definiert der Patient, wohin er gehen möchte, und dann versuchen wir gemeinsam, dieses Ziel zu erreichen.
... was unter diesen Umständen nicht ganz einfach sein wird ...
Likar: Ja, denn es geht ja nicht nur um die Betreuung des Patienten, sondern auch um die der Angehörigen: Angehörige haben oft Angst, dass zu Hause etwas passiert. Medizin und Therapie gewinnen dabei eine neue Bedeutung: Sie sind kein Absichern mehr, sondern einfach die bestmögliche Hilfe, damit ein Mensch seinen Weg gehen kann. Dass auf diesem Weg einmal der Tod ist, ist klar definiert. Das muss man auch den Angehörigen sagen: Sie brauchen keine Angst zu haben, dass der Patient schwerkrank ist; wenn er auf der Intensivstation liegen würde, würde er genauso sterben. Es geht vielmehr darum, ihm seinen Willen zu erfüllen, zu Hause sterben zu dürfen. Das Problem ist aus meiner Sicht, dass wir den Tod aus unserem Leben ausgeblendet haben. Aber er gehört dazu, so wie die Geburt. Wir haben auch viele Rituale zur Bewältigung des Todes verloren. Früher, als der Tote noch drei Tage im Haus aufgebahrt war, sind die Leute gekommen, haben gebetet, haben ihn nochmals in Geschichten aufleben lassen, haben gemeinsam gegessen und getrunken. Das war wichtig für den Abschied. Aus der Aufbahrungshalle geht man hinaus und verliert sich wieder.
In dieser Situation werden das Leben und das, was es ausmacht, ganz anders beurteilt als von einem Gesunden.
Das setzt voraus, dass Sie mit den Patientinnen und Patienten auch offen über deren Tod reden.
Likar: Man kann mit Menschen offen über Tod und Sterben reden. Sie spüren, ob Sie selbst dafür offen sind, und sind sehr froh, einen Gesprächspartner zu haben. In Palliativ- und Intensivmedizin sind Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen. Im gesellschaftlichen Alltag werden diese Fragen aber verdrängt oder bleiben oberflächlich. Wenn es Ernst wird, sehen die Dinge anders aus, dann kommt alles ganz dicht zusammen.
Auch die Selbstbestimmung kommt in Grenzbereiche, z. B. bei einem Koma-Patienten. Wie gehen Sie damit um?
Likar: Grundsätzlich kann man eine Patientenverfügung machen, die einiges regelt. Aber wir müssen schon sehr genau hinschauen, um zu verstehen, was jemand will: Es ist sehr schlimm, wenn jemand eingeliefert wird und wir diagnostizieren eine obere Querschnittslähmung, vom Hals abwärts gelähmt. Viele würden sagen, dass sie damit nie leben wollten. Aber bis auf einen, der schon über 80 war, wollten noch alle unsere Patienten leben. In dieser Situation werden das Leben und das, was es lebenswert macht. ganz anders beurteilt als von einem Gesunden, der so etwas nur aus dem Fernsehen kennt. Bei einem Koma-Patienten, den ich nicht fragen kann, versuche ich über die Angehörigen herauszufinden, was der Betroffene möchte. In der Akutphase wird niemand die lebenserhaltenden Geräte in Frage stellen; vielleicht nach Jahren, wenn klar ist, dass er selbst das nie wollte. Es ist schwer, darüber zu urteilen, wenn größtenteils noch unerforscht ist, was sich im Tiefenbewusstsein abspielt. Deshalb ist es wichtig, bei einem Koma-Patienten zu sein und auch mit ihm zu reden. Aber auch das gibt es: Wir haben einmal einen Patienten wiederbelebt; der hat mir dann sein Nah-Tod-Erlebnis geschildert: wie er durch den Tunnel blickte auf die schöne Wiese dahinter, um dann wieder zu Bewusstsein zu kommen und weiterzuleben, schwer krank. Der sagte zu mir: Ein zweites Mal nimmst du mir dieses Erlebnis nicht!
Schmerzfreiheit, Selbstbestimmung, zu Hause sein als Grundwünsche: Können wir von Sterbenskranken lernen, worin wirkliche Lebensqualität besteht?
Likar: Ganz wichtig ist die Selbstbestimmung. Wir haben 500 Menschen über 65 in Kärnten gefragt, wo sie ihren letzten Lebensabschnitt verbringen möchten. 90 Prozent haben geantwortet, dass sie ihn zu Hause verbringen möchten. Zu Hause bedeutet: bei meinen Verwandten und Freunden. Beziehungen spielen also auch eine große Rolle. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mensch mehr ist als nur Körper – der Körper ist die Schale, darin sind aber noch Geist und Seele. Was hinterlassen wir, wenn die Schale zerfällt?
Gibt es Entwicklungen in der Medizin, die Sie überraschen?
Likar: Es ist überraschend, dass die Medizin, obwohl es mehr Forschung und Apparate gibt, doch wieder in die andere Richtung geht und eine Medizin der Zuwendung wird. Das sollten wir auch in der Pflege mehr beachten: Neue Pflegeheime zu bauen, die dann wieder ausgelastet werden müssen, ist Symptombekämfung. Es ist an der Zeit, das soziale Verhalten in Familien und Dörfern wieder aufzuwerten: Nicht jeder braucht gleich die volle Pflege eines Heimes; einander zu helfen, über die Altersgrenzen hinweg, macht beiden Seiten eine Freude, und die Menschen könnten länger in ihrer vertrauten Umgebung bleiben.
Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Likar: Dass wir nicht die Symptome, sondern den Menschen im Auge haben. Kardinal König hat einmal gesagt, man solle nicht durch die Hand eines Menschen sterben, sondern an der Hand eines Menschen. Für mich heißt das: Zuwendung ist in der Medizin genauso wichtig wie die Apparate.
Zur Person:
Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar , geb. 28. 5. 1959, studierte Medizin in Graz, war 1989-1990 Ärztlicher Leiter der Stellungskommission des Militärkommandos Tirol, seit 2008 Univ.-Prof. für Anästhesie an der Universität Graz, seit 2010 Primarius der Abteilung für Anäs-thesie und Intensivmedizin am Landeskrankenhaus Klagenfurt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Anästhesie und Intensivpflege, Notfallmedizin und Schmerztherapien, Palliativmedizin.
Tipp:
An der Hand eines Menschen sterben. Dialogpredigt mit Dompfarrer Peter Allmaier und Prim. Rudolf Likar zur Bedeutung von medizinischer und seelsorgerischer Begleitung von Menschen im Sterbeprozess. Ort: Domkirche Klagenfurt, 27. 10. 2013, 19:00 Uhr.