Der Ukraine-Krieg ist ein Wendepunkt in der Weltgeschichte
SONNTAG-Gespräch mit dem Historiker und Russland-Experten Stefan Karner
Wir erleben jetzt in der Ukraine etwas, das wir seit 1945 für Europa überwunden geglaubt haben: den Angriffskrieg eines Staates gegen seinen Nachbarstaat. Sie sind ein Kenner Russlands: Kam dieser Krieg für Sie ebenso überraschend?
Karner: Ja und nein. Ja, weil man es doch bis zuletzt nicht wirklich glauben konnte oder wollte und es schier unvorstellbar schien. Man sah die wirtschaftlichen Erfolge des Landes, die wirtschaftliche Verknüpfung mit dem Westen, die kulturellen Traditionen Russlands von Tolstoj, Pasternak und Zwetajewa, das westliche Leben der Handy-Generation. Jener Leute also, die schon im neuen Russland unter Jelzin und Putin aufgewachsen sind. Sie sind heute 45 Jahre alt!
Nein, wenn man die zahlreichen Bücher über den postsowjetischen Raum, den postrussisch-slawischen Raum, über „Neurussland“ und über den darin implizierten russischen Anspruch auf diesen Raum las. Ich selber habe schon 1993 in Artikeln gefragt: Kommt das Imperium zurück? Die russischen Besetzungen von Abchasien, Südossetien, der Krim und Teilen des Donbass zielten dahin. Man hätte es eigentlich wissen müssen. Klar ist: Der 24. Februar 2022 hat die Weltgeschichte verändert, die Landkarte Europas wird neu gezeichnet werden.
Putin begründet den Krieg mit historischen, religiösen und nationalen Argumenten. Kann man damit einen Angriff auf die Ukraine rechtfertigen?
Karner: Nein, keinesfalls. Russen und Ukrainer sind zwei Brudervölker mit ähnlicher Sprache und Kultur, durch Jahrhunderte verbunden, aber auch getrennt. Beide leiten sich von der Kiewer Rus vor 1000 Jahren her, sind wirtschaftlich eng verflochten, gehören zum ostslawischen Kulturkreis, zur Orthodoxie, auch wenn sich Kiew kürzlich abspaltete. Der Heilige Fürst Wladimir/Wolodymir gehört beiden. Seine großen Statuen stehen in Kiew und neuerdings auch in Moskau. Wobei v. a. der Moskauer Patriarch den Krieg Russlands nicht verurteilt. Prägend wurden die gemeinsamen sowjetischen Jahre; Chruschtschow und Breschnew, die Ukrainer waren, die Millionen Opfer des KP-Systems in beiden Ländern, der Holodomor in beiden Ländern, ebenso die Kollaboration mit den NS-Besatzern in russischen Gebieten, v. a. aber in der West-
ukraine, wo der antisowjetische Widerstand, ähnlich wie im Baltikum, noch bis in die 1950er-Jahre andauerte. Gemeinsam sind ihnen auch die jahrzehntelangen technischen, sportlichen und künstlerischen Erfolge, wie in der Raumfahrt oder im Eishockey.
Wohin, glauben Sie, zielt Russland? Könnten andere Nachbarstaaten wie Moldau oder gar die Baltischen Staaten weitere Angriffsziele sein?
Karner: Das glaube ich nicht. Auch wenn es in diesen Staaten starke russische Minderheiten gibt. Die baltischen Staaten sind zudem Mitglieder der NATO.
Manche vergleichen die momentane Situation mit 1939 und dem Angriff Deutschlands auf Polen. Andere eher mit 1914 und dem Krieg Österreich-Ungarns gegen Serbien. Welcher Vergleich wäre Ihrer Meinung nach passender?
Karner: Keiner passt wirklich, weil sich Geschichte ja nicht in gleicher Form und in gleichen Abläufen wiederholt. Einiges kann man freilich diskutieren. 1914 schlitterte man wie „Traumwandler“ in einen Weltkrieg. Ich hoffe, dass dies jetzt nicht der Fall sein wird. 1939 war der Westen gegenüber Hitler lange nachgiebig, „Appeasement“ war das Stichwort.
Was folgt aus dieser Diskussion? Hätte man Russland zu Anfang der 2000er-Jahre stärker einbinden müssen – durch Interessensausgleich und Entspannung –, was man seit der deutschen Einigung leider mehrfach versäumt hat? Die Erweiterungsschritte der NATO, auch wenn es keinen schriftlichen Verzicht darauf gibt, wurden als Nadelstiche empfunden. Für die Abgabe der in der Ukraine stationierten Atomwaffen gab es westliche und russische Sicherheitsgarantien auf die Unabhängigkeit und die „existierenden Grenzen“ des Landes. Freilich Garantien ohne Sanktionen sind letztlich zahnlos.
Sie haben das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung gegründet. Welche Folgen wird dieser Krieg für Europa haben?
Karner: Die Folgen werden enorm sein, für die Ukraine, für Russland, für die EU, ja für ganz Europa. Europa wird im Weltmaßstab weiter verlieren. Es geht ja nicht nur um den Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden, um die Abhängigkeiten von russischen Rohstoffen, von Gas und Erdöl, um den Wiederaufbau von Volkswirtschaften und von geordneten Handelsströmen. Es geht für Russland vor allem darum, im Brudervolk der Ukrainer, mit dem man millionenfach verwandt und verbunden ist, wieder Vertrauen aufzubauen und in der Welt nicht mehr geächtet zu werden. Eine vielschichtige Herkulesaufgabe für ein, zwei Generationen.
Welche weiteren Folgen könnte dieser Krieg für Russland haben?
Karner: Russland stehen vermutlich dramatische Ereignisse bevor. Im Inneren: Zensur, Verfolgung der Oppositionellen gegen den Krieg, Sinken des Lebensstandards, was zu sozialen Unruhen führen könnte, bis hin zum Zerfall des Landes, einem zweiten „razpad“. Jahr um Jahr verliert das Land an Bevölkerung. Auf der anderen Seite des Flusses Amur ist das bevölkerungsreiche China, eine Weltmacht, militärisch, wirtschaftlich und mit dem Drang nach langsamer Infiltration der sibirischen und zentralasiatischen Gebiete. Dazu der Islam in Zentralasien und im Kaukasus. Ich denke, der nächste große Konflikt wird in diesem Raum ausgetragen. Russland hat dabei keine guten Karten, auch weil es sich vom Westen durch den Ukraine-Krieg vollkommen abgekoppelt hat.
Man hat das Gefühl, wir sind mit dem Ukraine-Krieg aus einem langen Traum brutal herausgerissen worden. Hat der Westen die Lage unterschätzt?
Karner: Ja, unterschätzt auf jeden Fall, obwohl die USA seit Dezember ziemlich präzise warnten. Allerdings dürfte auch Putin den Widerstand der Ukrainer unterschätzt haben.
Was bedeutet diese Situation für Österreich? Derzeit wird eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets diskutiert ...
Österreich soll in erster Linie den Flüchtlingen aus der Ukraine weiterhin helfen, bald auch jenen aus Russland. Aus der Ukraine kommen derzeit vor allem Frauen, deren Männer zuhause kämpfen, Kinder und alte Menschen. Aus Russland werden viele junge und gut ausgebildete Menschen kommen, die derzeit noch in Georgien oder Armenien Aufnahme gefunden haben. Tausende dürften in den größeren russischen Städten schon auf ihren Koffern sitzen. Für Europa ist eine der größten Fluchtbewegungen zu erwarten.
Österreich ist für seine Sicherheit vor allem selbst verantwortlich. Daher ein Ja zu deutlich höheren Militärausgaben. Die Neutralität allein wird uns nicht schützen, auch die NATO nicht. Es darf nicht sein, dass Österreich ein Militärbudget hat, das – umgelegt auf die Bevölkerung – nahe dem des Vatikans und anderer Kleinstaaten ist.
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