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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Der Nahe Osten, Frieden und die Rolle der verschieden Religionen

Karim El-Gawhary im Gespräch mit Gilbert Rosenkranz

Karim El-Gawhary ist Leiter des Nahost-Büros des ORF in Kairo und darüber hinaus publizistisch tätig. Im Interview beleuchtet er die Perspektiven des Nahen Ostens, die Aussichten für einen dauerhaften Frieden und die Rolle der Religionen.

Vor etlichen Wochen wurde die Journalistin Shireen Abu Akleh im Westjordanland erschossen. Sie war arabische Christin und Palästinenserin. Geraten die Christen in dieser Region zwischen die Fronten?

KARIM EL-GAWHARY: Ich glaube, dass ihre Religionszugehörigkeit überhaupt keine Rolle spielt. Was eine Rolle spielt ist, dass sie Palästinenserin ist. Sie ist nicht irgendeine ermordete Journalistin in Palästina: Für die Menschen dort war sie eine Ikone. Sie war eine der prominentesten Frauen in der arabischen Welt und hat seit 25 Jahren aus den israelisch besetzten Gebieten berichtet. Als Reporterin des größten arabischen Senders Al Jazeera war Shiren Abu Akleh wirklich in der ganzen arabischen Welt bekannt. Sie war das Gesicht des Lebens der Palästinenser unter israelischer Besatzung schlechthin. Sie hat für viele Frauen das Eis gebrochen und hatte für viele von ihnen eine Vorbildfunktion.

Am Begräbnis nahmen tausende Menschen teil.

EL-GAWHARY: Was interessant zu beobachten war, dass auch bei den Trauerfeiern die Religionszugehörigkeit keine Rolle spielte. Es waren muslimische und christliche Geistliche da – auch von verschiedenen christlichen Konfessionen. Das Begräbnis wurde zu einem Faktor, der die Palästinenser vereint hat – jenseits ihrer Religionszugehörigkeit und politischen Einstellung. Es war wirklich bewegend.

Schockierend waren natürlich die Bilder, die israelische Sicherheitskräfte gezeigt haben, wie sie auf die Menge einprügeln. Das sind Bilder, die sich in das kollektive arabische Gedächtnis eingebrannt haben. Was bleibt ist eine große Betroffenheit in der ganzen arabischen Welt.

Wie sieht Ihre Prognose aus für das Leben in Israel und Palästina?

EL-GAWHARY: Der Status quo, wie wir ihn gerade erleben, wird auf Dauer nicht zum Frieden führen. Wir werden immer wieder Gewalt erleben. Es ist wichtig nach einer Lösung zu suchen, damit Israelis und Palästinenser in naher Zukunft tatsächlich in Frieden leben können. Aktuell sehe ich drei Möglichkeiten: Den Status quo, wie wir ihn aktuell haben und der in keinster Weise nachhaltig ist. Die zweite Möglichkeit ist die Zwei-Staaten-Lösung, über die wir seit einem Viertel-Jahrhundert sprechen. Diese Möglichkeit wird aber immer unwahrscheinlicher, weil es keine Verhandlungsmasse gibt: nämlich über das Gebiet des palästinensischen Staates. Die dritte Möglichkeit ist eine Ein-Staaten-Lösung: Ein Staat, in dem Palästinenser und Israelis gleichberechtigt miteinander leben.

Das würde allerdings das Ende des Zionismus bedeuten.

EL-GAWHARY: Ja, das Ende eines jüdischen Nationalstaates. Ein Modell, in dem ethnische Herkunft und Religion für die Zugehörigkeit zum Staat keine Rolle spielen. Ich glaube, dass diese dritte Möglichkeit an Bedeutung gewinnen wird. Es wird nie eine friedliche Besatzung geben. Und die Palästinenser werden den aktuellen Status quo auch nie akzeptieren. Eine Lösung kann eigentlich nur von den Stärkeren, also von den Israelis, ausgehen – so wie damals vom israelischen Friedensnobelpreisträger und Ministerpräsidenten Isaak Rabin, der in den 90er-Jahren die Zwei-Staaten-Lösung verhandelte. Es wäre wichtig, offener zu denken, wenn es tatsächlich zu einem Frieden kommen soll. Allerdings: So wie die israelische Gesellschaft aktuell beschaffen ist, sehe ich im Moment wenig Aussichten auf einen wirklichen Frieden.

Wie ist das Leben in den besetzten Gebieten?

EL-GAWHARY: Es ist für die Palästinenser ein unerträgliches Leben. Sie werden sich mit der Situation, so wie sie jetzt ist, nie zufrieden geben. Man darf eines nicht vergessen: eine Besatzung macht beide Seiten kaputt. Die Besetzten, weil ihr Leben ruiniert ist, aber auch die Besetzer, weil es auch ihre Köpfe zerstört.

Welche Rolle können Christen im Vorderen Orient spielen?

EL-GAWHARY: Ganz egal wohin man schaut – Ägypten, Libanon, Israel, Palästina oder Irak: Christen sind ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaften. In Ägypten leben zum Beispiel mehr Christen, als Österreich Einwohner hat. Das ist also keine kleine Minderheit. Und sie haben ja auch wie die Muslime die gleichen Probleme, ihr Leben zu bewältigen. Das, was sie eint, ist viel mehr als das, was sie voneinander trennt.

In ganz Europa sind die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine spürbar. Wie ist das in Ägypten, wo Sie beruflich tätig sind?

EL-GAWHARY: Ich glaube, man kann sich in Österreich gar nicht wirklich vorstellen, wie hart die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind, wenn die Lebensmittelpreise so steigen, wie sie das im Augenblick tun. In einem Land, in dem 1/3 der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Das heißt, den Menschen stehen pro Tag weniger als 2 € für den Lebensunterhalt zur Verfügung. Ein großer Teil der Bevölkerung steht schon jetzt mit dem Rücken zur Wand: Da ist nicht mehr viel Luft, denn da ist keine Reserve, da ist nichts Erspartes. Die Menschen leben wirklich von der Hand in den Mund. Die Nahrungsmittelkrise wird in Ländern wie Ägypten ein großes Thema werden – auch im Libanon und Syrien, wo bereits rund 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Hungerrevolten sind also keine Utopie, sondern eine realistische Möglichkeit in der nahen Zukunft.Jemand hat mir vor ein paar Tagen erzählt: Wenn du im Libanon dein Auto volltankst, kostet das rund 80 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Vielleicht machen solche Beispiele deutlich, wie katastrophal die wirtschaftliche Situation in vielen arabischen Ländern inzwischen geworden ist.

Die Menschen hier in Europa haben den Eindruck, dass diese Probleme weit weg sind – im Unterschied zur Ukraine.

EL-GAWHARY: Ich halte das für eine Illusion. Das, was in der arabischen Welt passiert, geschieht in unmittelbarer Nachbarschaft. Alles, was dort passiert, hat daher auch unmittelbare Auswirkungen auf unser Leben in Europa. Wir sind fast so etwas wie eine geografische Schicksalsgemeinschaft. Wenn Sie hier ein Auto auftanken, woher kommt das Benzin? Wenn es dort Kriege und Krisen gibt, wohin flüchten die Menschen? Wenn sich in der arabischen Welt militante Gruppen bilden, wo entsteht ein Sicherheitsproblem? Natürlich auch in Europa. Und umgekehrt: Woher kommen die Waffen, die im Nahen Osten eingesetzt werden? Natürlich auch aus Europa. Das heißt, wir sind viel mehr miteinander verlinkt, als uns das oft bewusst ist. Die Vorstellung, wir könnten uns von dieser Region abschotten, ist vollkommen unrealistisch.

Welche Bedeutung hat die Religion für die Gesellschaften im Nahen Osten?

EL-GAWHARY: Ich glaube, der Nahe Osten wird in Europa viel zu sehr durch die religiöse Brille gesehen. Als würden die Menschen nur gemäß ihrer Religionszugehörigkeit etwa auf die wirtschaftliche Krise reagieren. Ich würde sogar sagen: Diese erweist sich als einigender Faktor. Alle haben dieselben Probleme. Allen gemeinsam ist der tägliche Kampf ums Überleben. Da spielt das Thema Religion keine Rolle. Es gibt höchst aussagekräftige Studien bezogen auf die Menschen unter 30 Jahren in der arabischen Welt. Diese machen 60 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Daraus geht hervor, dass rund 70 Prozent der Meinung sind, dass Religion eine zu große Rolle in der Gesellschaft spielt. Und 80 Prozent waren der Meinung, dass die Institutionen ihrer Glaubensgemeinschaft reformiert werden müssen.

Gibt es Werte, die Sie in der arabischen Welt besonders schätzen gelernt haben?

EL-GAWHARY: Es gibt in der arabischen Welt ein Sprichwort, das besagt: Der Nachbar ist wichtiger als das eigene Haus. Anders gesagt: Gastfreundschaft hat einen sehr, sehr hohen Stellenwert. Wie großzügig Menschen sein können, habe ich zum Beispiel in Tunesien erlebt. Ich brauchte Strom, um einen Beitrag für das Fernsehen fertigzustellen. Ich fragte bei einer Tischlerei. Der Mann stellte mir sofort einen Schreibtisch zur Verfügung. Abends kam der Chef zu mir, weil er nach Hause musste, und drückte mir einen Schlüssel in die Hand – mit den Worten: „Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen.“

Sie erleben als Journalist immer wieder auch sehr Bedrückendes.

EL-GAWHARY: Ja, natürlich. Das Schreiben und Erzählen ist für mich auch eine Art Therapie, all das zu verarbeiten.

Wollen Sie ein Erlebnis erzählen?

EL-GAWHARY: Ich erinnere mich etwa an die Begegnung mit einem Jugendlichen in einem Auffanglager von Geflüchteten. Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er in einem Boot versucht zu fliehen. Das Boot kenterte, die Mutter ertrank, der Jugendliche wurde von der Küstenwache wieder an Land gebracht. In solchen Begegnungen ist es oft schwer, die richtigen Worte zu finden bzw. überhaupt Fragen zu stellen. Ich fragte den Jugendlichen also: Was hättest du gemacht, wenn du es mit Deiner Mutter nach Europa geschafft hättest? Er hat gesagt: Ich wäre so gerne in die Schule gegangen. Seine Antwort ist mir lange nachgegangen.“

Zur Person:

Karim El-Gawhary wurde am 26. November 1963 als Sohn eines Ägypters und einer Deutschen in München geboren. Er studierte Islamwissenschaften und Politik mit dem Schwerpunkt Nahost an der FU Berlin. Der Journalist arbeitet seit 1991 als Korrespondent in Kairo.