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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Das Judentum: Eine eigene Welt für sich

Markus S. Bugnyar, Rektor des Österreichischen Hospizes in Jerusalem, zum „Tag des Judentums“ am 17. Jänner

Jerusalem betet. Während Tel Aviv feiert und Haifa bezahlt. So will es ein Sprichwort in Israel. Gemeint ist, dass Tel Aviv für viele junge Menschen die Partystadt schlechthin ist und in Haifa sich der größte Hafen des Landes befindet, der die Wirtschaft am Laufen hält.

Jerusalem ist die Heilige Stadt, nicht nur für uns Christen, sondern auch für Juden und Muslime. Wir verbinden mit ihr die Erinnerung an Jesus. Für Juden beginnt die Geschichte bereits mit Abraham, dem Freund Gottes. Muslime denken vor allem an die himmlische Entrückung ihres Propheten Muhammad, wenn sie den Namen Al-Quds, das bedeutet „die Heilige“, aussprechen.

Jerusalem: Die Heilige Stadt

Wer schon einmal in Jerusalem war, kennt es aus eigener Anschauung: Die Stadt ist geprägt von Synagogen, Moscheen und Kirchen. Wobei man ehrlicherweise bekennen muss, es ist leider oftmals mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander. Ein gemeinsames Gebet ist manchmal in dieser angespannten Region schon unter Christen verschiedener Kirchengemeinschaften schwierig.

Mehr als 60 verschiedene christliche Kirchen finden sich hier auf engem Raum. Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Unierte mit all ihren Untergruppierungen, die im Laufe der Zeit gewachsen sind. Das kennen wir. Wenigen aber ist bewusst, dass auch Judentum und Islam alles andere als in sich geschlossene, einheitliche Blöcke sind. Auch hier gibt es zahlreiche Schattierungen. Den Tag des Judentums nehmen wir zum Anlass, diese Religionsgemeinschaft in ihrer Vielfalt genauer zu betrachten.

Aschkenasische Juden unterschieden sich von sephardischen Juden: Diese Bezeichnungen rühren aus der geografischen Herkunft ihrer Mitglieder. Erstere bezeichnen die Juden Europas bis zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, zweiteres ist der geläufige Name für die Gemeinden der spanischen Halbinsel. Damit hätten wir die beiden Hauptgruppen benannt, es gibt allerdings noch eine dritte Gruppe: die mizrahischen Juden. Das Wort bedeutet „Osten“, und es zielt auf die Juden aus den arabischen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. Viele von ihnen machten sich in Israel ansässig, als der junge Staat in kriegerische Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn geriet.

In der ganzen Welt zerstreut

Die Frage stellt sich: Warum finden sich auf all diesen Kontinenten und Ländern der Welt jüdische Gemeinden? Immer wieder wurden Juden aus dem Heiligen Land durch fremde Eroberer und Machthaber vertrieben. Das erste Mal bereits im 6. Jahrhundert vor Christus, im sogenannten Babylonischen Exil. Und auch die Römer sorgten für die „Ausstreuung“ in alle Welt; das Wort Diaspora hat hier seinen Ursprung. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 und ebenso im Jahre 132 nach Christus wurde Juden der Aufenthalt in ihrem Land untersagt. Sie zogen weg, in Länder, die bereit waren, sie aufzunehmen, und wurden oft genug auch wieder vertrieben.

Innerhalb des Judentums kann man nicht nur nach Herkunft differenzieren, sondern auch (wenn ich vereinfachend so sagen darf) nach dem Grad der Frömmigkeit bzw. der Traditionstreue einzelner Mitglieder. Im Stadtbild werden Ihnen zuerst die orthodoxen Juden auffallen, mit ihren traditionellen schwarzen Gewändern, Hüten und Schläfenlocken. Aus ihrem Kreis stammen die meisten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Noch heute bewahren sie ihren traditionellen Kleidungsstil, auch wenn das bedeutet, einen galizischen Pelzhut in orientalischer Sommerhitze zu tragen.

Doch selbst orthodoxe Juden sind kein homogener Block für sich; wir kennen ultraorthodoxe, orthodoxe und auch aufgeklärte Vereinigungen. Gemeinsam ist ihnen die buchstabengetreue Bewahrung und Einhaltung des jüdischen Gesetzes, der Halacha, und der Heiligen Schrift. Besonders in Jerusalem gibt es sehr große Gemeinden; mehr als 50 % der Einwohner des israelischen Teiles der Stadt sind religiös. Doch auch in anderen Städten, wie Tiberias und Safed im Norden, in Galiläa, prägen sie das Bild in den Straßen.

Zwischen Tradition und Moderne

Freilich: Auch im Judentum schaffte sich die Erkenntnis Raum, dass das Erbe der Traditionen nicht immer mit den Herausforderungen und Gegebenheiten der modernen Zeit in Einklang zu bringen ist. Die sogenannten „Konservativen Juden“ versuchen, bei aller Treue zur Überlieferung, auch ihre zeitgemäße Interpretation. In gewisser Weise bildet diese Gruppe den „Mittelweg“ zwischen einer ultraorthodoxen Version des Judentums und den Reformern, die wesentlich stärker die Anpassung an die Moderne, ihre Philosophie, Weltanschauung und Lebensweise propagieren. Ihren Ursprung haben die Reformgemeinden im Berliner Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Kein zentrales Oberhaupt

Auf das Gesamt des Landes gesehen sind etwa 80 % der Juden in Israel nicht dem orthodoxen Segment, sondern den Konservativen und Reformern zuzurechnen.

Judentum und Islam kennen kein zentrales Oberhaupt. Die aschkenasischen und die sephardischen Juden haben ihre jeweils eigenen Oberrabbiner in Israel, deren Auslegung der religiösen Vorschriften manchmal ganz schön divers sein können. Es gibt zwar Kleriker, die ihren Gemeinden vorstehen, Rabbiner und in den mehr säkularen Gemeinden auch Frauen, die als Rabbinerinnen tätig sind, doch keine Hierarchie wie im katholischen Bereich mit einem Oberhaupt, das im Zweifelsfall eine für alle gleichermaßen verbindliche Entscheidung treffen könnte. Das bürgt für eine anhaltende Diskussion und gibt den einzelnen Gemeinden einen weiten Handlungsspielraum, freilich immer im Rahmen und auf dem Boden des Möglichen. Diese „Variationsbereitschaft“ (F. Henrich, 1969) empfinden Juden nicht als Schwäche, sondern eher als einen Beweis dafür, in welch vielfältiger Weise um die Verwirklichung des religiösen jüdischen Lebens in der Welt der Moderne gerungen wird.

„Jede lebendige Religion hat sich zu wandeln, um den Erfordernissen gerecht zu werden, denen die Anhänger der Religion unter den wechselnden Zeitumständen unterworfen sind. […] Andererseits: Jede Religion muss stets versuchen, sich dem Wandel der Zeitströmungen zu entziehen, sonst gerät sie in die Versuchung, sich jeder momentanen Moderichtung zu unterwerfen und (…) beraubt sich selbst ihrer Wurzel.“ (Henrich F., Die geistige Gestalt des Judentums, München 1969, S. 21)