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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Brief ans Christkind:  Ist der Wunsch nach Frieden unerfüllbar?

Heil sein in einer unheilvollen Welt

Die Logotherapeutin und Buchautorin Elisabeth Lukas, eine der bekanntesten Schüler*innen Viktor E. Frankls, beleuchtet Weihnachten aus einer „menschlichen“ Perspektive. Was bedeutet wahrer Friede und wie kann er auf Dauer gelingen?

Erwachsene schreiben selten Wunschzettel an das Christkind. Täten sie es, wäre heuer wahrscheinlich auf vielen Wunschzetteln das Wort „Friede“ zu lesen gewesen. Dabei hätte das Christkind diesen Wunsch gut verstanden. War es doch selbst ein Flüchtlingskind, auf der Flucht vor Gewalt und Terror geboren, auch wenn es seinerzeit nicht in einem Zeltlager oder Asylantenheim, sondern in einem Stall gelandet ist.

Der Wunsch nach Frieden

Unsere Welt hat sich seit der Antike sehr gewandelt, aber friedvoller ist sie nicht geworden. Ist der Wunsch nach Frieden unerfüllbar?

Keineswegs. Nur genügt es eben nicht, sich den Frieden herbeizuwünschen. Jeder Einzelne von uns ist gefragt und eingeladen, aktiv zur Friedensstiftung beizutragen. Denn wenn wir nicht imstande sind, in unseren Wohnzimmern, Schlafzimmern, Arbeitsbereichen etc. Frieden zu halten und zu schaffen, wie soll dann ganzen Völkern eine friedliche Koexistenz gelingen? Aber warum ist es so schwer, den Frieden zu bewahren? Nun, es ist leicht, solange man rings um sich Harmonie verspürt und alle einem wohl gesonnen sind. Wird man hingegen attackiert, ungerecht beschuldigt, verleumdet oder sonst irgendwie empfindlich getroffen, dann sieht die Sache anders aus. Sofort ist das dringende Bedürfnis da, mit dem Angreifer auf Konfrontation zu gehen.

Wie du mir, so ich dir?

Das „Wie du mir, so ich dir“-Prinzip steckt als tierisches Erbe tief im Menschen drinnen. Und nicht nur dies. Hat man das Gefühl, dem Angreifer unterlegen zu sein, also zur „Retourkutsche“ nicht imstande zu sein, dann ist man schnell bereit, seine Wut an Unschuldigen und Unbeteiligten auszulassen. Auf solchen Wegen ist freilich kein Friede herstellbar; es entstehen bloß Zirkel oder Endlosketten des Leides, das einander gegenseitig zugefügt wird.

Das bedeutet, dass wir uns schon ein wenig über unsere animalischen Instinkte erheben bzw. von unserem spezifisch humanen geistig/ethischen Potenzial Gebrauch machen müssen, wenn wir uns einer Friedenssicherung annähern wollen. In der Geschichte „Der kleine Weg zum Frieden“ von Bert Losse (Körner, Fellbach, 1993) beschreibt Losse eine ungewöhnliche Alternative zum simplen Zurückbeißen oder Um-sich-beißen. Hier ein Auszug daraus:

Ein Mann setzt sich im Park auf eine Bank. Ein fünfjähriger Junge klettert neben ihn. „Guten Tag“, sagt der Mann. „Das ist meine Bank!“, sagt der Knirps. „Hmm“, sagt der Mann und kramt in seiner Hosentasche. Zwei Bonbons kommen zum Vorschein. „Kannst ja eines haben“, sagt der Mann. „Joooh.“ Beide betrachten angestrengt ihre Schuhe. Der Knirps malt mit seinen Zehen Kreise in die Luft. „Kannst auch ein Stück von meiner Bank haben.“ Schweigend sitzen sie nebeneinander und lutschen ihre Bonbons.

Das ist kein kleiner Weg, sondern geradezu der Königsweg zum Frieden. Der Mann auf der Bank lässt sich nicht provozieren, sondern beantwortet die Unfreundlichkeit des Knirpses mit einem (nur scheinbar unlogischen) Freundschaftsvorschuss. Schluss mit „Wie du mir, so ich dir“! Schluss mit der Leidvermehrung! Er kommt dem Jungen ein Stück entgegen, er reicht ihm die Hand, er bremst die Aggression aus, die in der Luft hängt … und selbst ein Fünfjähriger kann sich der Wundheilung der Güte nicht entziehen.

Karussell der Lieblosigkeiten

Was meine ich mit Wundheilung? Psychologen und Neurobiologen haben längst herausgefunden, dass es hauptsächlich Verwundete sind, die Wunden schlagen. Gerald Hüther spricht sogar davon, dass das Böse zwischen den Menschen „der ständige Mitfahrer auf dem Karussell der Lieblosigkeit ist, das sich von Generation zu Generation weiterdreht. Wer böse behandelt worden ist, neigt dazu, andere böse zu behandeln.“ Auch der Junge auf der Bank wird vermutlich schon einige Dämpfer in seinem kurzen Leben erlebt haben. Aber darauf kommt es letztendlich nicht an. Niemandem bleibt es erspart, Frustrationen und Unannehmlichkeiten einzusammeln. Um den Frieden nicht stets aufs Neue zu verspielen, bedarf es Verwundeter, die aufhören, Wunden zu schlagen. Bedarf es einer Generation, die das Karussell der Lieblosigkeit anhält.

Eine menschliche Meisterleistung

Es bedarf der Helden, die Zirkel und Ketten des Leides aufbrechen und unterbrechen, indem sie einen erfahrenen Schmerz weder zurückgeben noch weitergeben, sondern dadurch entsorgen, dass sie ihn in eine menschliche Meisterleistung transformieren: nämlich aushalten und in ihren Reaktionen darauf Niveau halten. Indem sie einem „Feind“ mit Geduld und Großzü-gigkeit begegnen, erretten sie die Hoffnung für ihn und sich, den Schlingen permanenter Feindseligkeit zu entrinnen. Gewiss, man darf nicht alles mit sich machen lassen, doch selbst notwendiges Grenzenaufzeigen kann noch im Rahmen von Achtung und würdevollem Respekt geschehen.

Mein Lehrer, Viktor E. Frankl, hat 1945 solch eine Meisterleistung vollbracht. Er zog nach seiner Befreiung aus höllischen Konzentrationslagern buchstäblich den Häftlingskittel aus, den Arztkittel wieder an und half seinen Patientinnen und Patienten in der Wiener Poliklinik mit brillanter therapeutischer Kunst – ohne jemals zu fragen, ob sie früher dem antisemitischen Ge-hetze zugejubelt haben oder nicht. Auf diese Weise trug er nicht nur zur deutsch-jüdischen Versöhnung bei, sondern fand auch zum inneren Frieden mit seiner eigenen Vergangenheit.

Seelische Altlasten abwerfen

Vielleicht ist es kein schlechter Tipp, zum Ausklingen des Jahres generös und zuversichtlich seelische Altlasten abzuwerfen, mit Rachegelüsten und Vorwürfen aufzuhören und sich dazu durchzuringen, künftig statt dem Leid lieber die Hoffnung in der Welt zu vermehren und statt „Retourkutschen-“ und „Karussellfahrten“ lieber Wege der Güte zu beschreiten. So lassen Sie uns denn zum Anbruch des neuen Jahres allen Menschen auf Erden Frieden wünschen, auch denen, die nicht guten Willens sind – sie könnten ja noch guten Willens werden.

Zur Person

Elisabeth Lukas ist Psychotherapeutin und klinische Psychologin. Sie ist eine der bekanntesten Nachfolger*innen von Viktor Frankl, dem Gründer der Logotherapie, der sinnzentrierten Psychotherapie. Bis 2003 leitete sie das Süddeutsche Institut für Logotherapie in Fürstenfeldbruck. Ihre mehr als 30 Bücher sind in 16 Sprachen erschienen. Im Jahr 2001 erhielt Elisabeth Lukas den Viktor-Frankl-Preis der Stadt Wien. Im Mai 2014 wurde Elisabeth Lukas im Rahmen des 2. Weltkongresses des Viktor Frankl Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse in Wien die Ehrenprofessur des Moskauer Universitätsinstituts für Psychoanalyse verliehen.

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