120 Jahre katholische Soziallehre
Der Sozialethiker Univ.-Prof. Leopold Neuhold über "Rerum novarum" und seine Folgen
Am 15. Mai 1891 nahm Papst Leo XIII. mit der ersten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ umfassend Stellung zur sozialen Frage und legte damit den Grundstein für die „Christliche Soziallehre“.
Dass heuer 120 Jahre katholische Soziallehre gefeiert werden, blieb Vielen verborgen. Das hat auch damit zu tun, dass gesellschaftliche Gestaltung heute vielfach mit einem Reagieren auf aktuelle Herausforderungen ohne großen theoretischen Unterbau einhergeht. Denn grau ist ja bekanntlich alle Theorie. „Gräulich“ ist aber oft das Handeln ohne Theorie: populistisch, reagierend, austauschbar.
Orientierung geben
Die katholische Soziallehre sieht sich deswegen als Bezugssetzung. Den Bezugspunkt stellt das Ganze eines geglückten menschlichen Lebens dar. Diese Bezugssetzung war gefordert in der Auseinandersetzung mit den Strukturen, die sich in der modernen Industriegesellschaft herausbildeten. Die Antwort konnte dabei nicht nur in Appellen an den Einzelnen, seine Gesinnung an der Ethik auszurichten, gegeben werden, sondern auch im Aufruf zur Veränderung der Strukturen in einer Weise, dass sie gutes Handeln anleiten und erleichtern.
Dazu bedurfte es des Anbietens von Orientierungen in Form von Werten und auch von konkreten Modellen, die nicht aufoktroyiert werden sollten, sondern als Bezugsgrößen dienen könnten. In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch ein System von Prinzipien als Bezugspunkte für gesellschaftliche Gestaltung.
Der Mensch als Mittelpunkt
Im Personprinzip findet sich die Aufforderung, soziale Einrichtungen auf den Menschen hin zu gestalten, was angesichts einer Verkehrung des Slogans „Der Mensch als Mittelpunkt“ zu „Der Mensch als Mittel. Punkt“ wichtig ist.
Das Solidaritätsprinzip leitet aus der Tatsache, dass der Mensch für seine Entwicklung auf Andere angewiesen ist, die Pflicht ab, für den Anderen einzutreten und eine gemeinsame Entwicklung durch direktes Eintreten für den Anderen, aber auch durch den Aufbau von Strukturen wie die des Sozialstaates zu ermöglichen.
Das Gemeinwohlprinzip weitet den Blick auf Einrichtungen des Gemeinsamen, die als Überlebensgemeinschaften allen Menschen nicht nur das Überleben, sondern auch ein Gut-Leben in einem umfassenden Blick ermöglichen.
Im Subsidiaritätsprinzip schließlich wird eine Gestaltung der Gesellschaft vom Einzelnen über die den Einzelnen bergenden nahen Gemeinschaften hin zu umfassenden Gesellschaftseinrichtungen ins Auge gefasst, die Ermächtigung der einzelnen und kleineren Gruppen angestrebt, indem Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe ausgestaltet wird.
In der Ausrichtung auf diese vier Prinzipien hat die Soziallehre Perspektiven eingebracht, die den Blick frei geben auf eine Gesellschaftsordnung, in der der Mensch mehr Mensch werden kann.
Wirtschaftsgerecht
Im Laufe der Entwicklung wurden sie auf verschiedene Sozialgebilde bezogen und haben sich dadurch weiterentwickelt. An der Wirtschaft gezeigt: Der Forderung nach Sachgerechtigkeit in der Wirtschaft wird mit dem Imperativ: „Wirtschafte wirtschaftsgerecht!“ zu entsprechen versucht. Sachverstand und Sachkenntnis sind wesentlich auch für eine ethische Gestaltung der Wirtschaft in all ihren Phasen. Aber das genügt nicht.
Menschengerecht
Mit dem zweifachen Imperativ „Wirtschafte menschen- und gesellschaftsgerecht!“ wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Wirtschaft in Beziehung zum Menschen und zur Gesellschaft steht, die strukturierende Bezüge für das Wirtschaften darstellen. Gerade angesichts der Gefährdung der Umwelt muss aber auch der Imperativ: „Wirtschafte zukunfts- und umweltgerecht!“ erhoben werden, damit aus der Umwelt Mitwelt wird.
Beitrag zu geglücktem Leben
Die katholische Soziallehre bedeutet somit ein Ausspannen eines Bezugsnetzes, mit dem Wirtschaft zu einem Kulturprojekt werden kann. In seiner Enzyklika „Caritas in Veritate“ hat ja Papst Benedikt XVI. im Jahre 2009 darauf verwiesen, dass Wirtschaft ethisch gestaltet wird durch Gesetze, die die Rahmenordnung für die Wirtschaft bilden, durch Verträge, mit denen wirtschaftliche Handlungen direkt gesteuert werden, und durch Unentgeltlichkeit, die mit dem Moment der Gabe eine auf den ganzen Menschen hin gerichtete Erweiterung der Wirtschaft bedeutet. Wirtschaft und Gesellschaft sind damit mehr als nur abgegrenzte Bereiche, zugleich sind sie aber auch nicht alles, sondern Mittel für menschliches Glück.