Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Und dennoch dem Leben vertrauen

Was würden Sie tun, wenn auch in der zweiten Schwangerschaft "Hydrocephalus" diagnostiziert wird?

 (© Foto: Zinkernagel)
(© Foto: Zinkernagel)

Die Herausforderung „Leben“ meistern sie: Beiden Söhnen der Pfarrersfamilie Sabine und Martin Zinkernagel in Wiesenburg, Jacob und Cornelius, wird im Mutterleib Hydrocephalus diagnostiziert. Sabine hat MS.

Wann haben Sie begonnen, sich als Mutter bzw. Vater zu fühlen?

Martin: Vier Namen für unsere Kinder hatten wir schon am Anfang unserer Beziehung.

Sabine: Wir wollten Kinder haben und Eltern werden. Mutter war ich ab dem Moment, wo ich wußte, schwanger zu sein. Ein halbes Jahr zuvor die Diagnose MS – ich war froh, dennoch schwanger werden zu können, medizinisch gesehen stand diesem Wunsch nichts im Weg.

Martin: Das Gefühl, Vater zu werden, war zum Zeitpunkt der Schwangerschaft da. Gemischtgefühlig, denn zwei Monate vor der Entbindung erfuhren wir von Jacobs Wasserkopf.

Sabine: Während der Schwangerschaft wurde Blut aus der Nabelschnur entnommen, um es auf einen speziellen Gendefekt hin zu untersuchen – mit diesem hätte Jacob keine Chance gehabt. Damals hatten wir gerade das Kinderzimmer bestellt ohne zu wissen, würde unser Kind je drin liegen oder nicht überleben. Befürchteter Gendefekt war es dann nicht, und Jacob würde überleben: Ein Anfang also mit sehr gemischten Gefühlen. Durch die Schmerzen nach dem Kaiserschnitt konnten „romantische Muttergefühle“ erst mal nicht aufkommen.

Martin: Jacob lag auf der Intensivstation im Inkubator, ich wickelte ihn und brachte ihn zu Sabine auf die Wochenstation – unser Sohn!

Wie hat sich Ihr Eltern-Sein dann entwickelt?

Martin: Freunde und Eltern waren Vorbilder; So wollte auch ich einmal mit meinem Kind umgehen. Trotz Jacobs Behinderung warf ich ihn in die Luft, fing ihn auf und ähnliches. Das hat mir geholfen zu sagen: JA, das ist mein Sohn, und ich freu mich darüber. Das zeigte ich bewusst auch nach außen hin. Mit Cornelius war dann vieles mehr möglich – die gleiche Behinderung zeigte sich anders.

Sabine: Beim zweiten Kind war ich als Mutter schon selbstsicherer. Die Ärzte haben Corne-lius nicht mehr so engmaschig überwacht wie Jacob. Wir hatten Erfahrung durch den Umgang mit Jacobs Behinderung, waren nicht mehr so fixiert auf Ärzte, Krankenhaus und die Entwicklung des Hydrocephalus. Das hat unserem Familienleben gut getan.

Hat das Eltern-Sein Ihre eigenen Eltern- und Freundesbeziehungen beeinflusst?

Sabine: Freundschaftspflege war durch häufige Umzüge eher schwierig. Durch die Kinder kam es dann zu Kontakten mit anderen Eltern und deren Kindern. Ich empfinde immer größer werdenden Respekt, wie meine Eltern mit dem eigenen behinderten Kind umgegangen sind. Ich habe mehr von ihnen gelernt, als mir bewusst war.

Es war Priorität, unsere eheliche Beziehung zu stärken – weil wir stark sein mussten.

Martin: Ob meine Eltern über die Behinderung ihrer Enkel enttäuscht sind? Darüber wird nicht gesprochen. Die Jungs gehören zu uns, sie sind so, Punkt. Dankbar sind wir für gute Freunde, die uns bis heute im Gebet mittragen und uns so entlastet haben, dass wir zeitweise ausspannen konnten.

Elternschaft, Kindschaft – und Gott mittendrin?

Sabine: Unsere religiöse Erziehung war nicht so intensiv, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Martin: Aber im Ergebnis durchschlagend! Wir staunen, was unsere Söhne so mitnehmen. Die Jungen wollten mit zehn und zwölf Jahren getauft werden. Am Abend des Tauffestes vorm Schlafengehen sagte Jacob: „Jetzt gehöre ich zu Gott.“ Und ich denke: JA! Soviel falsch gemacht haben wir dann wohl doch nicht.

Sabine: Wir Eltern sind nicht für alles verantwortlich, was mit unseren Kindern passiert – wir müssen sie in manchen Fällen Gott überlassen, vertrauen und dafür beten, dass Gott ihnen auf seine Weise begegnet. Ich muss auch die eigene Vorstellungen loslassen, dem Kind den „richtigen“ Glauben vermitteln zu wollen …

Martin: ... und in den letzten Jahren kommt Cornelius, bevor er zu Bett geht, und zeichnet uns ein Kreuz auf die Stirn. So, wie wir die beiden als Kinder gesegnet haben.

Ist Eltern-Sein eine Herausforderung für Ihre Paarbeziehung?

Martin: Wir hatten wenig Zeit für uns, dennoch war es Priorität, unsere eheliche Beziehung zu stärken – weil wir stark sein mussten. Der Blick ausschließlich auf die Kinder schadet. In aller Fürsorge für die Kinder suchten wir nach Möglichkeiten, Wochenenden zu zweit zu verbringen, Eheseminare zu besuchen, auf Stille Tage oder auf Urlaub zu fahren – suchten Hilfen und Entlastungen, entweder über die Großeltern oder Familiensozialdienste.

Sabine: Ich kenne Paare, deren Ehe an den Belastungen mit dem behinderten Kind zerbrochen ist. Das Kind profitiert auf Dauer von der funktionierenden Paarbeziehung seiner Eltern mehr als von der Überfürsorglichkeit eines Elternteils. Es ist wichtig, achtsam mit dem Partner umzugehen, die Beziehung zu kitten.

Martin: Eine neue Lebensphase: Unsere Söhne sind nun innerhalb von vier Wochen ausgezogen. Cornelius ist in eine Wohnschule und Jacob ins Behindertenwohnheim gezogen. Und wir gewinnen Zeit, zu Einkehrtagen oder Seminaren zu fahren. Wir freuen uns auf eine neue Zweisamkeit.

Eltern ist man ein Leben lang. Welche Visionen, welche Ausblicke haben Sie?

Sabine: Man lernt die Kinder von einer anderen Seite kennen, wenn sie aus dem Haus sind und man nicht mehr alles für sie regeln muss. Eine „erwachsenere“ Eltern-Kind-Beziehung reift.

Martin: Unsere Familien und Freunde wissen, dies ist kein Abschieben der Kinder, sondern eine bewusste Entscheidung, die wir langfristig mit unseren Söhnen vorbereitet haben.

Sabine: Ich hoffe, unsere Söhne finden immer Menschen um sich, die ihre positiven Seiten schätzen und sie dabei unterstützen, soweit wie möglich selbstständig zu werden.

Martin: Da bin ich es, der die größere Zuversicht hat für Jacob und Cornelius. 

Interview: Bernadette Grabner

 

Buchtipp:

Sabine Zinkernagel: Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Aus dem Leben mit zwei besonderen Kindern
Taschenbuch/eBook, gebunden, 158 Seiten, Neufeld Verlag. 2. Auflage (2013); 15,35 € (als eBook: 12,35 €). Als der Frauenarzt ihr eröffnet, dass auch ihr zweites Kind behindert zur Welt kommen wird, bricht für Sabine Zinkernagel die Welt zusammen. Erst allmählich und mit Hilfe von außen entdeckt sie die starken Seiten ihrer beiden besonderen Kinder. Sie erzählt lebendig, witzig und ehrlich von Türschlossknackern, Sprachjongleuren und großen Musikern, von Höhen und Tiefen ihres Familienlebens, Schwieriges und Ermutigendes. Und sie schildert ihr ganz persönliches Ringen um neues Vertrauen in Gott. Ein bewegendes und ehrliches Buch, das Mut macht.

 

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