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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Anderssein ist immer eine Chance

Ghislain Du Chéné im Gespräch über Down-Syndrom, Lebensfreude und egozentrische Vorstellungen vom "Wert des Lebens"

Ghislain Du Chéné, Internationaler Koordinator der Gemeinschaften "Glaube und Licht" und Vater, im "Sonntags"-Gespräch anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages am 21. 3.

Ghislain Du Chéné, Internationaler Koordinator der Gemeinschaften “Glaube und Licht“ und Vater, im SONNTAG-Gespräch anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages am 21. März (© Foto: Marie Genel)
Ghislain Du Chéné, Internationaler Koordinator der Gemeinschaften “Glaube und Licht“ und Vater, im SONNTAG-Gespräch anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages am 21. März (© Foto: Marie Genel)

Der 21. 3. ist der Welt-Down-Syndrom-Tag. Worauf macht uns dieser Tag aufmerksam?

Du Chéné: Dieser Tag möchte uns darauf aufmerksam machen, dass Menschen mit Down-Syndrom der Welt viel mehr zu geben haben, als wir uns vorstellen können. Ich sage das aus meiner Erfahrung der letzten 25 Jahre: Anders-Sein macht Angst, aber es ist immer eine Chance. Es ist gut, dass Menschen mit Down-Syndrom heute in die Regelschule gehen können: Alle haben dadurch das Glück, mehr lernen zu können. Die einen können lernen wie alle anderen Kinder, die anderen können lernen, dass Menschen mit Down-Syndrom wertvoll und liebenswürdig sind und eine Bereicherung für die Gesellschaft.

Möchten Sie das ein wenig erläutern?

Du Chéné: Bei einem Lauf der Special Olympics, ich glaube, es war in Seattle, waren einmal zwei Läufer mit Down-Sydrom ganz vorne, Kopf an Kopf. Kurz vor dem Ziel stürzte der eine. Statt die Chance zu nützen, als erster ins Ziel zu kommen, lief der andere zurück, half ihm auf die Beine, und dann liefen sie Hand in Hand durchs Ziel. „Es war wichtiger, meinem Freund zu helfen, als das Rennen zu gewinnen“, sagte er später. Das bringt einige Werte in eine andere Ordnung – und ich denke, es ist die lebensfreundlichere. Eine ganz unerwartete Bestätigung dafür gab es auch heuer zum Weltfriedenstag, dem 1. Jänner: Ein Publikumspreis der Aktion „24 Stunden für den Frieden“ ging an die Gesamtheit der Menschen mit Down-Syndrom „als Anerkennung für ihre wahrhaftige Fähigkeit, in ihrem Umfeld Frieden zu stiften“.

Haben Sie sich nie gefragt: Wie kann Gott das zulassen? Oder: Warum trifft es gerade mich?

Du Chéné: Ich hätte mir nie ausgesucht, ein Kind mit Trisomie 21 zu bekommen, ich wünsche es auch niemand anderem. Und doch sehe ich unsere Tochter Julie als ein wirkliches Geschenk Gottes, als eine Bereicherung. Sie tut uns gut; durch sie sind wir bessere Menschen geworden, als wir es ohne sie wären.

Was bedeutet dieses zusätzliche Chromosom im Alltag?

Du Chéné: Vom Äußerlichen her sind Menschen mit Down-Syndrom immer etwas kleiner als andere, haben mandelförmige Augen, ein wenig wie Chinesen oder Mongolen – von daher auch die frühere Bezeichnung „mongoloid“. Dazu kommt eine gewisse Disposition für Herzprobleme. In der Regel lernen sie etwas langsamer, ihre Gedankengänge sind anders und manchmal etwas kompliziert. Aber Julie kann lesen, schreiben, schwimmen, radfahren, schifahren. Trotzdem wird sie immer etwas verletzlich bleiben und Hilfe brauchen: Sie kann z. B. nicht unterscheiden, ob ein 50-Cent-Stück oder ein 50-€-Schein mehr wert ist, weil auf beiden „50“ steht. Aber Menschen mit Down-Syndrom sind lebensfroh, lachen und feiern gerne – mit ihnen zu leben ist nie langweilig.

Menschen mit Beeinträchtigung sind keine Untermenschen, denen wir helfen, um uns den Himmel zu verdienen. Im Gegenteil, sie sind es, die uns bei der Hand nehmen und uns dorthin führen.

Durch die Pränatal-Diagnostik werden kaum noch Kinder mit Down-Syndrom geboren. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Du Chéné: Das ist eine Frage, die weh tut: Man spielt ein wenig Gott, man will allmächtig sein und entscheidet über Leben und Tod der Ungeborenen. Dabei hat es einen tiefen Sinn, dass es Menschen gibt, die uns daran erinnern, dass andere Werte als Schönheit, Intelligenz, Reichtum und Sportlichkeit zählen. Verletzlichkeit ist Teil unseres Lebens. Wir beginnen und beenden unser Leben in großer Verletzlichkeit. Daran möchte man nicht erinnert werden, also entfernt man die Verletzlichkeit mitsamt den Menschen, die uns daran erinnern. So, als wäre die Welt besser, wenn es keine beeinträchtigten Menschen gäbe. Aber es ist genau umgekehrt, ich sehe es an mir selbst: Mein Leben wäre vielleicht bequemer, aber nicht besser.

Es gibt wieder gesellschaftliche Tendenzen, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden. Eine Anmaßung?

Du Chéné: Letzten Sommer erklärte uns ein Priester bei Einkehrtagen, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen ist. Gott ist dreifaltig, also sei auch im Menschen ein Bild der Dreieinigkeit. Er erklärte das so: Dem Vater entspreche das Gedächtnis, das von Anfang an da ist und sich an alles erinnert; dem Sohn der Verstand, so wie er den Jüngern von Emmaus die Schrift erklärt hat; dem Geist die Liebe. Daraufhin fragte ich mich: Wie ist das mit Julie, ist sie auch ein Ebenbild Gottes? Das Gedächtnis: kein Problem, sie vergisst niemanden, den sie einmal kennen gelernt, und keine Musik, die sie einmal gehört hat. Liebe hat sie auch im Überfluss. Aber die Intelligenz ... ?
Vielleicht ist ihre kognitive Intelligenz nicht so ausgeprägt; dafür sie hat eine ausgesprochene sozial-emotionale Intelligenz, mit der sie Situationen intuitiv erfasst, Spannungen lokalisiert, Dinge auf den Punkt bringt. Also ist sie auch in diesem Sinne ein Ebenbild Gottes.

Europa hat einen sehr hohen Standard in der Betreuung von Menschen mit Behinderung. Braucht es da überhaupt Bewegungen wie „Glaube und Licht“?

Du Chéné: In den Einrichtungen hilft man Menschen mit Behinderung, ihr Leben zu bewältigen, selbstständiger zu werden, zu arbeiten – aber man ist in einem ungleichen Verhältnis zu ihnen: Die „Besseren“ helfen den „Schwächeren“. „Glaube und Licht“ ergänzt dazu etwas Wichtiges: die Freundschaft. Wir machen nichts für Menschen mit Behinderung, sondern mit ihnen. Freundschaft lebt aus dem gegenseitigen Austausch, Freunde erleben sich als wertvoll. Immer wieder kommen Menschen zu uns in der Absicht, zu helfen – um dann festzustellen, dass in Wirklichkeit sie die Beschenkten sind. Ein Kardinal sagte einmal zu Jean Vanier: „Wenn Sie sagen, dass nicht Sie den Menschen mit Behinderung Gutes tun, sondern diese Ihnen: Das ist ja wie die kopernikanische Wende, wo sich nicht mehr die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne!“ Oder anders gesagt: Menschen mit Beeinträchtigung sind keine Untermenschen, denen wir helfen, um uns den Himmel zu verdienen. Im Gegenteil, sie sind es, die uns bei der Hand nehmen und uns dorthin führen.

Fr. Roger steht für die Botschaft von Taizé, Mutter Teresa für die Armen von Kalkutta. Wofür steht Jean Vanier, der Gründer der „Arche“ und Mitgründer von „Glaube und Licht“?

Du Chéné: Jean Vanier steht für diese neue kopernikanische Wende. Ich würde ihn die „Mutter Teresa der Menschen mit Behinderung“ nennen, weil er ihnen sein ganzes Leben geschenkt hat. Er ist ein Zeichen für unsere Zeit.

Inwiefern?

Du Chéné: Gott schenkt jeder Zeit ihre besonderen Charismen. Was sagt er uns durch Jean Vanier? Dass Menschen mit Behinderung wertvoll sind. Wir brauchen diese Botschaft gerade in einer Zeit, in der man alles daransetzt, dass sie nicht mehr geboren werden. Nicht, um militant gegen etwas aufzutreten, aber im Positiven, um ihren Wert und ihre Bedeutung wieder zu entdecken.


Zur Person:

Ghislain du Chéné, geb. 1950, verheiratet, fünf Kinder, arbeitete bis vor Kurzem in der Entwicklungsabteilung eines großen französischen Telekommunikationsunternehmens. Julie, seine jüngste Tochter, hat das Down-Syndrom. Du Chéné ist Internationaler Koordinator der Gemeinschaften „Glaube und Licht“.

„Glaube und Licht“ ist eine internationale Bewegung von Gemeinschaften von Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und Freunden. Die Bewegung, die 1971 von Jean Vanier und Marie-Hélène Mathieu gegründet wurde, umfasst heute fast 1.500 Gemeinschaften in allen Kontinenten.