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Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Synodal leben - Krisen meistern

IX. Unterscheiden und entscheiden

Mit Überblick und Zuversicht Krisen meistern (A. Kapeller)
Mit Überblick und Zuversicht Krisen meistern (A. Kapeller)

Wer selbst über sein Leben bestimmen kann, erlebt sich als frei und wirkmächtig. Werden hingegen Entscheidungen vorgegeben oder „abgenommen“, fühlen sich viele Menschen ohnmächtig und ausgeliefert. Papst Franziskus weiß um die Notwendigkeit und Schwierigkeit gute Entscheidungen zu treffen. Deshalb widmet er in seinem Vorbereitungsschreiben „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ das vorletzte Themenfeld diesem Anliegen. Als Jesuit hat der Papst aber von seinem Ordensvater, dem Heiligen Ignatius von Loyola, gelernt, dass es für eine gute Entscheidung die Fähigkeit der „Unterscheidung der Geister“ braucht.

Sich selbst prüfen

Bereits zu Beginn seiner „Geistlichen Übungen“ empfiehlt Ignatius von Loyola jeden Morgen, Mittag und Abend innezuhalten und sich im Rückblick auf die verstrichene Zeit zu „prüfen“ und auf das Kommende innerlich vorzubereiten. Dieses so genannte „Examen“ oder „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ strukturiert den Tag und regt zu einem ständigen Prozess der Selbstreflexion an. Dabei geht es um die Frage, ob mein Denken, Reden und Tun vor dem liebend-prüfenden Blick Gottes Bestand hat. Das beständige Einüben dieser Gebetsweise, so Willi Lambert, führt dazu, dass sich im Laufe der Zeit ein „Gespür für Gottes Willen“ entwickelt.

Die Geister unterscheiden

Woran aber merke ich, dass eine Entscheidung „passt“ und somit dem Willen Gottes entspricht? Wer Ignatius von Loyola folgt, erhält eine ganze Reihe von Regeln, „um einigermaßen die verschiedenen Bewegungen zu klären und zu erspüren“ (EB 313), die sich im Inneren melden. Dabei sind die Regeln Wegweiser und Orientierungshilfen. Entscheidend aber ist, was sich im Inneren „abspielt“. Für diese Regungen verwendet Ignatius die Begriffe „Trost“ und „Untrost“. Wenn eine Entscheidung „passt“, so löst dies dauerhaft inneren Trost und Frieden aus, selbst wenn ich mir Schwierigkeiten ausmale, die durch diese Entscheidung auf mich zukommen könnten.

Unterschiede aushalten

Die „Unterscheidung der Geister“ mündet aber nicht notwendigerweise in einen Konsens. Darauf weist Ignatius von Loyola unter anderen seine Mitbrüder hin, die als Berater zum Konzil von Trient entsandt werden. Sie sollen damit rechnen, dass der Heilige Geist verschiedenen Menschen in derselben Sache Unterschiedliches eingeben kann. Was aber tun, wenn man bei einem Thema zu völlig gegensätzlichen Überzeugungen gelangt? Ignatius gibt zunächst den Rat, dem Gegenüber Gründe für die eigene Einschätzung anzugeben und sich „nicht vom eigenen Urteil voreingenommen zu zeigen“ (Brief – Rom, April-Mai 1546). Er geht jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er fordert:

Jeder gute Christ muss mehr bereit sein, eine Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verdammen.“ (EB 22)

Wenn Kontrahenten bereit sind, die Position des anderen nicht nur zu verstehen, sondern zu „retten“, verschwindet nicht die Divergenz, es erhöht sich jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Lösung in den Blick kommt, die für beide Seiten annehmbar ist.

Konsens suchen

Der Philosoph Jürgen Habermas hat sich eingehend mit der Bedeutung des Konsenses für das Zusammenleben einer Gruppe bzw. Gesellschaft beschäftigt. Die Gewinnung eines Konsenses verdankt sich einem diskursiven Vorgang an dem sich möglichst viele beteiligen müssen und dessen Inhalt bereits in der jeweiligen Gesellschaft vorgebildet ist. Ein erreichter Konsens ist aber nicht etwas Abgeschlossenes, sondern hat sich zu bewähren und kann sich demnach auch ändern. Für Papst Franziskus reicht für einen tragfähigen Konsens die Übereinkunft möglichst vieler nicht aus. Denn in einem Konsens drücken sich Grundwerte aus, die den Vorgang eines Dialogs übersteigen. So schreibt der Papst in seiner Sozialenzyklika Fratelli tutti (= Brüder alle):

Auch wenn wir solche Grundwerte dank Dialog und Konsens erkannt und angenommen haben, sehen wir, dass sie über jeden Konsens hinausgehen (…) und niemals verhandelbar sind. (Fratelli tutti, 211)

Daher weist er nachdrücklich darauf hin, dass der Konsens zwar etwas Dynamisches ist, die ihm innewohnenden Grundwerte jedoch als unveränderlich anzusehen sind.

Die „Mutter“ aller Entscheidungsprozesse

Beim Apostelkonzil erfolgt die Entscheidungsfindung in harter Auseinandersetzung (Apg 15, 1-29). Besonders deutlich wird dies aus der Perspektive des Paulus (Gal 2, 1-10). Was war geschehen? Paulus fühlt sich dazu berufen, das Evangelium den „Unbeschnittenen“, also den Nichtjuden, zu verkünden. Nun haben sich jedoch, so Paulus, Eindringlinge eingeschlichen, die dagegen opponieren. Deshalb geht Paulus nach Jerusalem, um für seinen Weg zu kämpfen und für Klarheit zu sorgen. In der Versammlung der Apostel und der Ältesten findet er Gehör und es wird der Beschluss gefasst, dass man nicht nur über den jüdischen Glauben zu Christus finden kann. Im Anschluss daran resümiert Paulus:

Gott, der Petrus die Kraft zum Aposteldienst unter den Beschnittenen gegeben hat, gab sie mir zum Dienst unter den Völkern. (Gal 2, 8)

Für Thomas Söding ist dieser Vorgang wegweisend für alle kirchlichen Entscheidungsprozesse. Denn am Apostelkonzil kommt der Beschluss im Hören auf den Heiligen Geist, unter Einbindung der Gemeinden von Antiochia und Jerusalem und unter der Verantwortung apostolischer Leitung zustande. Das Ergebnis ist dabei ein Konsens, der vorhandene Unterschiede akzeptiert.

Miteinander entscheiden

Voraussetzungen für eine „gute“ Entscheidung sind: Selbstreflexion, Bereitschaft sich auf den anderen und seine bzw. ihre Sichtweise unvoreingenommen einzulassen und eine Verständigung über die Grundwerte, die für alle Beteiligten bindend sind. Ist bei einem Entscheidungsprozess ein hierarchisches Gefälle gegeben, braucht es zudem Maßnahmen, um alle Betroffenen gleichberechtigt am Entscheidungsprozess zu beteiligen. So wird es beim synodalen Prozess nicht genügen, das Gottesvolk zu Stellungnahmen aufzufordern und in Gesprächsrunden zu hören. Nötig ist wohl zudem, dass sich möglichst viele Kleriker und Laien, Männer und Frauen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen unmittelbar und ungefiltert einbringen können. Wenn dies gelingt, kann es wie beim Apostelkonzil zu Entscheidungen kommen, die im Heiligen Geist erfolgen und so die Kirche in eine gute Zukunft führen.