Christus in den Armen begegnen
Spurensuche BETEN – Geistliche Impulse von Michael Kapeller über bedeutende Männer und Frauen des 20. Jahrhunderts

Im Frühjahr 1971 näherte sich ein Eselfuhrwerk – beladen mit einem Bett, einem Waschtisch und einem Betschemel – der Müllsiedlung von Kairo. Das allein war eine Sensation, denn in diese Gegend hatte sich bisher noch nie ein Fremder und schon gar kein Weißer gewagt. Doch damit nicht genug. Die ältere Frau, die hinter dem Eselfuhrwerk herging mietete sich im Elendsviertel einen Ziegenstall, um dort gemeinsam mit 40.000 Menschen mitten auf der Müllhalde zu leben. Die Menschen im Umfeld dieser 62jährigen Ordensfrau mit dem Namen Sr. Emanuelle konnten diesen Wohnortwechsel nicht verstehen, manche hielten sie für verrückt. Was aber veranlasste diese Ordensfrau zu diesem Schritt? Das auslösende Ereignis war wenig spektakulär und doch einschneidend genug: Sr. Emanuelle unterrichtete in einem Mädchengymnasium in Alexandrien. Zum Schulschluss lud sie die Maturantinnen zum Hammelfest nach Kairo ein. Dort beobachteten sie Kinder, die im Müll nach Essbarem suchten. Spontan forderte Sr. Emanuelle die Mädchen, die allesamt aus wohlhabenden Familien stammten, auf, für diese Kinder Geld zu spenden. Das Ergebnis war erschütternd. Gerade einmal 50 Cent waren zusammengekommen. Das reichte Sr. Emanuelle zur Kehrtwende ihres Lebens.
Gutes Haus und exzellente Bildung
Geboren wurde Sr. Emanuelle, mit bürgerlichen Namen hieß sie Marie-Madeleine Cinquin, 1908 in Brüssel als Tochter einer belgischen Unternehmerfamilie. Nach ihrer Schulausbildung studierte sie Philosophie und Theologie in Istanbul und an der Sorbonne in Paris. 1929 trat sie in die Ordensgemeinschaft Notre Dame di Sion (= Unsere liebe Frau von Sion) ein. Der Orden setzte sie als Professorin für Literatur und Philosophie in Istanbul, Tunis und Alexandrien ein. Ihren Lebensabend wollte sie jedoch nicht in einem Kloster in Frankreich verbringen, sondern mitten unter den Ärmsten der Armen. Bereits nach wenigen Wochen erwarb sie sich das Vertrauen der Menschen der Müllsiedlung und begann sie zu unterrichten. Aus diesen Anfängen wuchs ein großes Hilfswerk. Sie baute Schulen, medizinische Einrichtungen und ein Haus für alte Menschen. Nach elf Jahren in der Müllsiedung in Kairo wurde sie auf das noch größere Elend der Menschen in den Mokkatam-Bergen aufmerksam. So brach sie ihre Zelte in Kairo ab und nahm die neue Herausforderung an. Und auch vor der Not im Sudan verschloss sie ihre Augen und ihr Herz nicht. Erst 1993 kehrte sie nach Frankreich zurück, wo sie am 20. Oktober 2008 in einem Altersheim ihres Ordens in Südfrankreich starb.
Tägliche Rendezvous als Lebensquell
Die Kraft für ihren Einsatz bezog Sr. Emanuelle aus dem Gebet. Täglich – meist früh am Morgen – nahm sie mehrere Stunden Fußmarsch auf sich, um die Eucharistie mitfeiern zu können. Abends besuchte sie koptische Familien in ihren Blechhütten, um mit ihnen die Bibel zu lesen und zu beten. Oftmals schien sie der Berg der Not förmlich zu erdrücken. Doch gerade in solchen Situationen vermochte sie über sich hinauszuwachsen, denn sie wusste:
Ich kann alles, alles durch den, der mich stärkt.
Mit dieser Kraft übersprang sie immer wieder neu Mauern. Angetrieben wurde sie dabei von ihrer Liebe zu den Ärmsten der Armen. Wie Jesus, der nicht beim Vater geblieben ist, sondern ganz hinuntergestiegen ist, wollte sie den Menschen in der Müllsiedlung nahe sein. Im Zusammensein mit ihnen erkannte sie ihre eigene Armut. Als Arme fühlte sie sich den Armen nahe. In ihnen begegnete ihr Christus.
Herr, wieder schaust du uns an mit diesem Blick der Liebe,
den du auf die Ehebrecherin geworfen hast, (…)
auf den Schächer, der neben dir hing.
Aus den Tiefen, Herr, in die wir eingesunken sind,
schreien wir zu dir: Rette uns, denn du liebst uns.