Organisation

Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Fratelli tutti

Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft

Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft (Foto: Georg Haab)
Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft (Foto: Georg Haab)

Am 4. Oktober 2020, dem Gedenktag des Heiligen Franz von Assisi, veröffentlichte Papst Franziskus seine Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ (übersetzt: "Brüder alle"), die er tags zuvor in Assisi unterschrieben hatte. Unmittelbar darauf erschienen Zitatsammlungen, Kommentare und theologische Analysen. Eine Woche später ist es bereits erstaunlich ruhig geworden um dieses Dokument, das sich mit seinen acht Kapiteln und 287 Artikeln doch durch einen erheblichen Umfang und eine Fülle an Themen auszeichnet. Liegt es daran, dass die hohen Erwartungen einer Antwort auf die Corona-Pandemie doch nicht erfüllt wurden? Andreas Batlogg weist in einem Online-Kommentar darauf hin, dass Fratelli tutti zeige, dass der Papst nicht nur spirituell, sondern auch konkret sei. Vielleicht liegt die Stärke dieser Enzyzklika zwar nicht in neuen dafür aber konkreten Handlungsimpulsen. Dieser Spur werde ich in diesem Beitrag folgen und jeden Abschnitt mit einem entsprechenden Zitat abschließen. Beginnen möchte ich aber mit einer kurzen grundsätzlichen Beobachtung.

Fratelli tutti – musste dieser Titel sein?

Bereits einen Monat vor Erscheinen der Enzyklika gab es, besonders unter deutschen Theolog/innen, große Aufregung um diesen männlich gefassten Titel. Zwar wurde er in der Folge mit „Geschwisterlichkeit“ abgemildert, dennoch stellt sich die Frage, ob dieser Titel wirklich sein musste. Die Antwort darauf lautet doch recht eindeutig nein. Denn der Bezugspunkt zu den „Admonitiones“ (übersetzt „Ermahnungen“) von Franziskus wird vom Papst nur am Beginn der Enzyklika hergestellt und das mit Verweis auf einen anderen Abschnitt dieser geistlichen Gedanken. Bedeutender war wohl das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, das der Papst am 4. Februar 2019 gemeinsam mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb in Abu Dhabi veröffentlicht hatte. So liest sich die Enzyklika über weite Strecken wie eine Entfaltung dieses Dokumentes. Die Enzyklika selbst versteht der Papst als Sozialenzyklika, die er allen Menschen guten Willens widmet und als „demütigen Beitrag zum Nachdenken“ (FT 6) vorlegt. Dennoch vermag diese Enzyklika, anders als „Laudato si´“, nicht dem Anspruch der großen Texte der katholischen Soziallehre zu genügen, die in ihrer Zeit auf die jeweiligen Herausforderungen Antworten angeboten haben. So wirken Aussagen über die Corona-Pandemie eher nachträglich eingefügt und spielen nur eine Nebenrolle.

Soziale Freundschaft

Die Forderung nach sozialer Freundschaft bildet so etwas wie das Herzstück dieses lehramtlichen Schreibens. Darunter versteht der Papst eine „Liebe, die über alle Grenzen hinausreicht“ (FT 99). Der Papst plädiert dafür, von einer Haltung der Exklusion, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist abzurücken und zu einer Haltung de Inklusion zu wechseln, die Notleidende, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung und besonders auch Migranten einbezieht. Der Grund dafür liegt für den Papst in folgender Überzeugung:

„Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir die Probleme unserer Zeit nur gemeinsam oder gar nicht bewältigen können.“ (FT 137)


Dialog

Die Komplexität der Gesellschaft veranschaulicht der Papst immer wieder mit der geometrischen Form des Polyeders. So wie sich dieses Gebilde nicht auf eine Dimension reduzieren lässt, so wenig ist dies bei den vielfältigen gesellschaftlichen Äußerungsformen möglich. Dabei spricht sich der Papst dafür aus, sich der Mühe der offenen und wertschätzenden Auseinandersetzung zu stellen:

„Der soziale Frieden erfordert harte Arbeit, Handarbeit. (…) Unterschiede zu integrieren ist viel schwieriger und langsamer, aber die Garantie für einen echten und beständigen Frieden.“ (FT 217)


Kultur

Bereits seit seiner Antrittsenzyklika „Evangelii gaudium“ spielt für Papst Franziskus die Frage nach der kulturellen Identität eine wichtige Rolle. Dabei weist er auf die Gefahr hin, dass wirtschaftlich reichere Länder von anderen Ländern nachgeahmt werden und somit kulturelle Vielfalt verloren geht. In diesem Zusammenhang kommt der Papst auch auf Rassismus zu sprechen, der für ihn ein Virus ist, „der leicht mutiert, und, anstatt zu verschwinden, im Verborgenen weiter lauert.“ (FT 97) Gegenüber Menschen anderer Kulturen, besonders auch gegenüber Migranten kann man sich dann öffnen, wenn man nicht einen „lokalen Narzissmus“ (FT 146) lebt, der Mauern errichtet, sondern den anderen Menschen zuerst in seiner Würde begreift. Dazu ist aber, so der Papst, eine gefestigte kulturelle Identität erforderlich:

„Man kann die anderen nur dann annehmen, wenn man selbst fest mit dem eigenen Volk und seiner Kultur verbunden ist.“ (FT 143)


Politik

Das Thema Politik zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch die Enzyklika und begegnet in Aussagen über Migration, der Stärkung multilateraler Zusammenarbeit, der Ächtung des Krieges und der Todesstrafe, der nötigen Dominanz der Politik über die Wirtschaft und der Aufgabe von Politiker/innen selbst. Für den Papst hat der Einsatz eines Politikers immer das Gemeinwohl im Blick zu haben und darf sich nicht von kurzfristigen Wahlerfolgen leiten lassen. Eigens erwähnt der Papst, dass die Kirche die Autonomie der Politik respektiert, aber ihre eigene Mission nicht auf den privaten Bereich beschränkt. Zwar bringen sich Amtsträger nicht in die Parteipolitik ein, dürfen aber nicht die Sorge um das Gemeinwohl und eine ganzheitliche Entwicklung ausklammern. (FT 276

„Eine gute Politik vereint die Liebe mit der Hoffnung, mit dem Vertrauen auf die Vorräte an Gutem, die sich trotz allem im Herzen der Menschen befinden.“ (FT 196)


Geschwisterlichkeit

Mit dem Begriff „Geschwisterlichkeit“ im Untertitel der Enzyklika bietet der Papst eine weitere Verständnishilfe an. Mehr noch als die soziale Freundschaft bezieht sich diese auf das unmittelbare emotionale menschliche Miteinander. So hebt der Papst in einer der wenigen Überlegungen zur Corona-Pandemie hervor, dass viele bislang meinten die Freiheit des Marktes würde ausreichen, um alles zu gewährleisten und wir uns in den letzten Jahren „mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren“ (FT 33) haben. Die Anerkenntnis der Geschwisterlichkeit aller Menschen erfordere, so Papst Franziskus, den Glauben, dass wir uns alle einem gemeinsamen Vater verdanken. Dies ist auch der Beitrag der Religionen, die diese in einem ständigen Dialog miteinander für die Weiterentwicklung der Weltgemeinschaft einbringen können. Die Haltung der Geschwisterlichkeit garantiert die Menschenwürde und bewirkt die Ausbreitung von Frieden:

„Ein jeder von uns ist aufgerufen, Friedenstifter zu sein, (…) indem er Wege des Dialogs öffnet und keine neuen Mauern errichtet.“ (FT 284)


Resümee

Diese Enzyklika bietet nicht so sehr einprägsame und pointierte Aussagen zur Deutung von Kirche und Welt. Vielmehr schlägt der Papst eher leise und manchmal auch nachdenkliche Töne an. Seine Sendung verfolgt er jedoch nachdrücklich und konsequent: er möchte mitbauen an einer Welt in der alle Menschen - besonders die Armen und Notleidenden - in Würde leben können und sich dabei nicht als Konkurrenten sondern als Geschwister begreifen. Und dies ist für Papst Franziskus nicht nur ein Auftrag an Politiker und Machthaber, sondern an jede und jeden Einzelnen.