Organisation

Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Die Schwelle überschreiten

Theologische Fragmente im Spiegel der Corona-Pandemie

Schwelle in die Pfarrkirche Klagenfurt-St. Martin (M. Kapeller)
Schwelle in die Pfarrkirche Klagenfurt-St. Martin (M. Kapeller)

Schwellenerfahrungen bieten eine Chance, stellen zugleich aber auch eine Herausforderung dar und führen immer ein Stück ins Ungewisse. Denn eine Schwelle überschreiten heißt, sich der Unsicherheit aussetzen, dabei die Balance des Vertrauten verlieren und nicht genau wissen, was einen „dahinter“ erwartet. Schwellenerfahrungen begleiten uns durch einzelne Lebensphasen und zeichnen mehr oder weniger auch jeden Jahreswechsel aus. Dies trifft für mich in besonderer Weise für den Übergang in das Jahr 2021 aber auch für das gesamte Jahr 2020 zu. Dazu möchte ich einige Beobachtungen anstellen. Orientierungshilfe bieten mir Notizen von Reinhold Schneider, die nach seinem Tod im Buch „Winter in Wien“ veröffentlicht wurden und in denen er seinen Wienaufenthalt als Ausdruck einer zeitgeschichtlichen Schwelle wahrnimmt und reflektiert.

Verlust von Gewissheiten

Bereits 1958 notiert Reinhold Schneider, dass die Wissenschaft den Anspruch erhebt alles zu kontrollieren, dies jedoch nur zu einer sich fortsetzenden Selbstvernichtung der Schöpfung und darin des Menschen führt, der der „Unendlichkeit im Großen wie im Kleinen“ ausgeliefert bleibt. Diese düstere Prognose hat durch das Auftreten von Covid-19 eine ungeahnte Bestätigung erfahren. Galt unser Leben bislang durch ein funktionierendes Gesundheitswesen, Versicherungen und Sozialstaat weitgehend gesichert, erfuhren wir uns nun diesem Virus schutzlos ausgeliefert. Seit Ende des 2. Weltkrieges hatte in Österreich kein Ereignis so tiefe Einschnitte zur Folge und so massiv in das persönliche, politische, ökonomische und gesellschaftliche Leben eingegriffen. Dieses Gefühl des Ausgesetztseins löst Angst, Aggression und Spannungen aus und bietet einen Nährboden für oft irrationale Deutungen und Verschwörungstheorien. Dabei werden wir unweigerlich zurückgeworfen auf eine der Grundfragen menschlicher Existenz: Was oder wer trägt uns, wenn vermeintliche Sicherheiten und Gewissheiten nicht mehr tragen?

Grenzenlose Bedrohung

Zwar etablierte sich der Begriff Globalisierung bereits ab dem Ende der 1980er Jahre in unserem Sprachgebrauch, er blieb jedoch eher virtuell. Dies änderte sich schlagartig mit dem Auftreten von Sars-CoV-2. Wie ein Lichtstrahl durch Staubpartikel sichtbar wird, lässt sich die fortschreitende Verbreitung des Virus von China, über Europa, in die USA, nach Südamerika, Indien, Australien und bis nach Afrika verfolgen. Diese Pandemie macht vor keiner Grenze halt und verschont kein Land. Wüteten Seuchen in den letzten Jahrzehnten vor allem in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern, so wurden reiche Industrienationen von Covid-19 teilweise noch härter getroffen. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten: nach einer kurzen Schockstarre wurden wechselseitige Reiseverbote verhängt und nationale Grenzen dicht gemacht. Zugleich begann ein Wettlauf und mehr noch Wettkampf um einen der vermeintlich rettenden Impfstoffe. Eine Ahnung großer globaler Zusammenhänge äußert bereits Reinhold Schneider, wenn er die Beobachtungen zum Rückgang der Gletscher in den Alpen nahezu prophetisch kommentiert:

Aber das Eis rückt vor, in den Völkern, in uns.

Dieses Vorrücken des Eises lässt sich aktuell nicht nur bei der Frage nach der Verteilung des Impfstoffes, sondern auch bei der Bewältigung der ökologischen Krise und beim Umgang mit Geflüchteten, die an den Rändern Europas in unwürdigen Verhältnissen ihr Dasein fristen, beobachten.

Füreinander da sein

Das Jahr 2020 stellt zudem einen tiefen Einschnitt in zwischenmenschliche Begegnungsformen dar: Zuwendung und Gemeinschaft stellen plötzlich eine Gefahr dar. Gefordert ist vielmehr auf Berührungen und Umarmungen verzichten, Abstand halten und Gesichtsmaske tragen. Die Folgen sind nicht selten Verunsicherung, Isolation und Vereinsamung. Diese Grundstimmung überfällt Reinhold Schneider auch immer wieder während seines Wienaufenthalts. Doch in den letzten Tagen vor seiner Abreise leuchtet so etwas wie die Gewissheit auf, dass ihn die Fügung trotz allen persönlichen Versagens nicht verlassen, sondern immer an den rechten Ort geführt habe, „wenn die innere Stunde da war“. So erfährt er in dieser Stadt durch die freundliche Aufnahme von Kollegen plötzlich und völlig unerwartet so etwas wie Beheimatung. Was wird aus einer Nach-Corona-Perspektive das sein, was wir in dieser Krise gelernt haben sollten? Mit Reinhold Schneider möchte ich zwei Dinge hervorheben: Wichtig ist, einen inneren Ort gefunden zu haben, der Sicherheit vermittelt und es ermöglicht, die oft widersprüchlichen Signale und Botschaften, die auf uns einströmen, einzuordnen. Zudem brauchen wir Menschen, die uns Heimat schenken, indem sie uns bedingungslos annehmen und uns zugleich durch ihr Dasein ein nötiges Korrektiv bilden.

Einen neuen Schritt wagen

So stehen wir nun an der Schwelle in ein neues Jahr. Dieser Schritt wird bedingt durch die Einschränkungen des Lockdowns eher unspektakulär ausfallen. Dabei ist der Ausblick auf 2021 sowohl von Zuversicht als auch von Skepsis geprägt. Vermutlich wird sich die Corona-Pandemie in diesem Jahr abschütteln lassen. Die Folgen werden uns aber noch länger beschäftigen und andere Krisen werden wieder stärker in den Vordergrund treten. Bei Reinhold Schneider habe ich einen Gedanken gefunden, der für diesen Jahreswechsel leitend sein kann.

Ich sage nicht, dass der das Gute findet, der es sucht. Aber wer das Schlechte sucht, findet es gewiss. (…) Und doch fordert es sehr viel mehr Verstand, das Gute zu erkennen als das Schlechte (…) und sehr viel mehr Willen, Ethos, Humanität, menschliche Weisheit, Persönlichkeit.“

Das Gute in mir und im anderen zu suchen ist dabei wohl mehr als ein Neujahrsvorsatz, es ist eine Haltung, eine Lebensaufgabe. Ich denke aber, diesen Schritt zu wagen lohnt sich.