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Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Die Corona-Pandemie im Spiegel der Theologie

Braucht es immer einen Schuldigen?

Suche nach dem Schuldigen (M. Kapeller)
Suche nach dem Schuldigen (M. Kapeller)

Wir kennen es aus unserem Alltag: Wenn ein Fehler passiert oder ein Unglück über uns hereinbricht, braucht es jemanden, der daran schuld ist, jemanden der dafür verantwortlich gemacht werden kann und der dann auch gefälligst die Verantwortung zu übernehmen hat. Ähnlich verhält es sich bei der aktuellen Krise. Immer wieder höre und lese ich Aussagen wie diese: „Also schuld an diesem ganzen Corona-Schlamassel sind zuerst die Chinesen, die alle falsch informiert haben und dann die WHO, die sich von den Chinesen hat täuschen lassen und nicht zu vergessen die geldgierige Tourismuswirtschaft, die aus Profitgier viel zu lange weggeschaut hat.“ Und weiter: „Dass wir nun mit diesen massiven Einschränkungen leben müssen, verdanken wir nur den Alten und den Risikogruppen, denn uns Jungen kann dieses Virus ohnedies nichts anhaben.“ Klar ist: Ein Schuldiger, ein Sündenbock muss her. Woher kommt nun aber die Vorstellung eines Sündenbocks und kann man auch ohne einem Schuldigen auskommen?

Ein Ziegenbock, kein Sündenbock

Zwar ist die „Idee“ des Sündenbocks ganz eng mit der Perikope des Versöhnungstages im Buch Leviticus 16,1-34 verbunden, dieses Wort wird man dort jedoch vergeblich suchen. Es handelt sich vielmehr um einen Ziegenbock, der durch Aaron mittels Losentscheid ausgewählt wird. Auf ihn lädt Aaron alle Vergehen des Volkes. Um sie auch wirklich loszuwerden, wird dieser Bock in die Wüste geschickt. Dieser Bock fungiert dabei jedoch nur als „Transportmittel“, um all das Negative aus der Mitte des Volkes zu entfernen. Erst später entfaltet dieser Ritus eine Wirkungsgeschichte, in der dieser Ziegenbock auch unmittelbar zum Sündenbock wird, der mit seinem Leben bezahlt.

Grundlage des Sündenbock-Schemas

Warum neigen wir Menschen dazu, Schuld auf jemand anderen abzulagern? Mit dieser Frage hat sich der Kulturanthropologe René Girard (1923-2015) eingehend beschäftigt. Dabei wurde er auf einen Wesenszug des Menschen aufmerksam, den er als Mimesis, als Nachahmung bezeichnet. Der Mensch orientiert sich an anderen Menschen. Sie sind für ihn ein Vorbild und Ideal, das er selbst erreichen will. Zugleich werden ihm diese anderen aber zum Rivalen, die ihn daran hindern, das Ziel zu erreichen. Dieser Mechanismus lässt sich in der Beziehung zweier Brüder veranschaulichen. Der jüngere Bruder bewundert den älteren und möchte auch so sein wie er. Der ältere Bruder ist fasziniert von der Unbekümmertheit des Jüngeren und fördert ihn, wo er nur kann. Die Bewunderung schlägt in Rivalität um, wenn der ältere Bruder spürt, dass der jüngere seinen Platz einnehmen könnte und wenn der jüngere den Eindruck gewinnt, dass ihn der ältere „klein halten“ möchte. Wechselseitige Vorwürfe sind die Folge. Die ganze Familie wird involviert und schlägt sich auf eine der beiden Seiten. Wurde diese Dynamik einmal in Gang gesetzt, so Girard, lässt sie sich nicht mehr stoppen.

Funktion des Sündenbocks

An dieser Stelle kommt der Sündenbock ins Spiel. Denn für eine Familie bzw. Gruppe stellt so ein Ausbruch von Rivalität die Gefahr eines ungehemmten Gewaltausbruchs dar. Soll nun die Gewalt ausgelebt werden, ohne dass das Familien- bzw. Gruppengefüge gefährdet wird, braucht es jemanden, an dem man sie abagieren kann. Im Regelfall wird dafür ein Sündenbock ausgewählt, der zwar gewisse Ähnlichkeiten aufweist, jedoch nicht unmittelbar dazu gehört. Zudem ist dieser Sündenbock schwächer und kann daher auch entsprechend „besiegt“ werden. Bei Brüderkonflikten übernimmt diese Funktion (wenn sie sich überhaupt lösen lassen) häufig ein entfernter Verwandter. Auf die Familie bzw. eine Gruppe wirkt der Sieg über diesen Rivalen entlastend und stabilisierend. Diese kollektive Übertragung einer aufgestauten Gewaltneigung bezeichnet René Girad als Sündenbock-Mechanismus.

Sündenbock-Mechanismus

Die durch das Abladen der Aggression auf den Sündenbock erzielte Entlastung währt aber nur für eine gewisse Zeit. So prägten sich in Gruppen ritualisierte Wiederholungen von Opfern heraus (dafür wurden auch Tiere herangezogen). Der jeweilige Ritus ermöglicht es, Rivalität und Aggression nach festgelegten Regeln auszuleben, ohne dabei den Bestand der Gruppe zu gefährden. Dennoch bleibt etwas offen, denn die Aggression der Rivalität wird nicht an ihrer Wurzel bearbeitet, sondern auf einen zufällig ausgewählten Sündenbock umgelenkt.

Christus – der Sündenbock schlechthin

Mit dieser mimetischen Theorie hat sich der Theologe Raymund Schwager (1935-2004) eingehend beschäftigt und sie als Schlüssel zu einem vertieften Verständnis der Bibel erkannt. Dabei ist für ihn Christus der Sündenbock schlechthin. Er, der als Sohn Gottes ganz Liebe und Gewaltverzicht ist, macht sichtbar, wie viel an Wut und Gewalt im Menschen steckt. Diese Aggression entlädt sich an ihm. In seinem Kreuzestod löst sich diese Spannung auf grausame Weise. Soweit die Logik der mimetischen Theorie. Was aber nun folgt, sprengt den Rahmen.

Gott aber verzeiht

Denn das Geschick Christi endet nicht mit seinem Tod am Kreuz. Durch seine Auferweckung wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Denn Gott sinnt nicht auf Rache und Vergeltung. Er trägt dem Menschen die Ermordung seines Sohnes nicht nach. Das, so Raymund Schwager, ist der nicht zu erwartende Höhepunkt der Geschichte Gottes mit dem Menschen:

„Was keine menschliche Phantasie hätte ersinnen können, trat ein: das Gesetz der Vergeltung wurde zum Gesetz der erlösenden Liebe. Der Fluch wurde mit Segen vergolten. Der Verschwörung des Hasses antwortete die verströmende Liebe.“

Damit lässt sich die Neigung zur Rivalität an der Wurzel heilen: Gewalt bringt nicht neue Gewalt hervor und Rivalität entzündet sich nicht ständig neu, sondern wird durch Gottes Liebe in ihrer Destruktivität entlarvt.

Anders leben

Kehren wir am Ende dieses Beitrags zur Frage des Einstiegs zurück: Gibt es eine Möglichkeit, auf die Suche nach einem Schuldigen zu verzichten? Für Raymund Schwager liegt die Voraussetzung darin, dass sich der Mensch von Gott angenommen und wertvoll erfährt. Dieser Zustand ist eine Folge des Wirkens des Heiligen Geistes. Wer diese Kraft in sich erkennt und ausprägen kann, was in ihm steckt, wird nicht zur Rivalität neigen. Denn er oder sie muss keinem Vorbild nacheifern, sondern nur tun, was ihm oder ihr möglich ist. So entwickelt sich ein neues Miteinander von Menschen, die sich der eigenen Stärken bewusst sind und sich an den Stärken der anderen freuen können. Dies ändert auch den Umgang mit Fehlern und eigenem Versagen. Auch dafür braucht es kein Ablenkmanöver und keine Suche nach einem Sündenbock. Denn der Blick auf Christus macht deutlich: Gott verurteilt mich nicht, sondern hält die Ohnmacht des eigenen Versagens mit mir aus, weil er sie in Christus am Kreuz selbst durchlitten hat. Die eigene Ohnmacht auszuhalten durchbricht den Kreislauf der Gewalt, weckt Verständnis für die Fehler anderer und hilft mir, mich auch darin anzunehmen.