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Institut für kirchliche Ämter und Dienste

Corona-Impfung - eine Frage der Freiheit?

Corona-Impfung als Frage der Freiheit? (M. Kapeller)
Corona-Impfung als Frage der Freiheit? (M. Kapeller)

Noch bevor sich das Gefühl eines „Sommers wie damals“ hat breit machen können, hatte uns das Thema Corona bereits wieder eingeholt. Gründe dafür waren und sind steigende Infektionszahlen aufgrund der „Delta-Variante“, Rückgang der Impfbereitschaft und Sorge, dass auf einen vielleicht zu unbeschwerten Sommer wieder ein Herbst voller Einschränkungen folgt. Anders als im Sommer 2020 steht nun in unseren Breiten Impfstoff in ausreichender Menge zu Verfügung. Die Skepsis der Impfung gegenüber ist jedoch nach wie vor groß. So lösen Überlegungen einer Reduktion der „3 G-Regel“ auf eine „1 G-Regel“ und die Forderung einer Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen Widerstand aus. Dabei argumentieren die einen mit Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung und Schutz von Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können und die anderen mit individuellen Freiheitsrechten, die nicht einfach eingeschränkt werden dürfen und einer Skepsis, ob die Impfung überhaupt wirksam und sicher ist. Diese Diskussionen werden nicht nur auf politscher Ebene und medial geführt, sondern auch in Freundeskreisen und Familien. So habe ich in den letzten Wochen darum gerungen, wie man aus theologischer Perspektive mit dieser Spannung zwischen Wohl der Gesamtbevölkerung und legitimer Rechte des Einzelnen umgehen kann.


Freiheit als Selbstentfaltung

Von den unterschiedlichen Zugängen zum Begriff Freiheit schließe ich mich Helmuth Vetter an, der meint:

Freiheit (…) bedeutet die Möglichkeit aller Lebewesen, sich ihrem Wesen gemäß entfalten zu können, spontan und ohne Zwang.

Freiheit ist demnach ein Gut, das allen Lebewesen zukommt, jedoch nicht nach einer vorgegebenen Norm, sondern gemäß ihrem Wesen und ihren persönlichen Voraussetzungen. Die Stoßrichtung von Freiheit zielt somit auf eine Selbstentfaltung, die spontan und ohne Zwang zu gewährleisten ist.

Meine Freiheit, deine Freiheit

Was aber tun, wenn es bei der Selbstentfaltung der einzelnen Lebewesen zu Spannungen kommt oder gar das Ausleben der Freiheit des einen den anderen in seiner Entfaltung einschränkt? Wenn hier nicht das Recht des Stärkeren zur Anwendung kommen soll, braucht es weitere inhaltliche Bestimmungen von Freiheit, die möglichst alle Lebewesen teilen können. Im Indogermanischen haben die Wörter Freiheit, Freund und Friede dieselbe Wurzel „pri“. Eine spontane und ohne Zwang mögliche Selbstentfaltung erfolgt in Begegnung mit einem anderen Menschen (= einem „Freund oder einer Freundin“) und sie zielt auf einen äußeren und inneren Frieden. Denn das gewaltsame Durchsetzen der eigenen Freiheit führt letztlich nicht zur Freiheit, sondern hat den Zwang zu Folge, sich durchsetzen bzw. sich verteidigen zu müssen.

Freiheit und Gemeinwohl

Menschliche Freiheit steht immer in der Spannung zwischen Selbstbestimmung und autonomem Handeln auf der einen Seite und dem Miteinander mit anderen Menschen und der Teilhabe an einer größeren Gemeinschaft auf der anderen Seite. Besonders groß wird sie, wenn das Verhalten des Einzelnen unmittelbar Auswirkungen auf das Wohl anderer Menschen hat bzw. wenn die Gemeinschaft vom Einzelnen ein Verhalten fordert, das ihren bzw. seinen Entscheidungsfreiraum einschränkt. In diesen Fällen erhält das Gemeinwohl – und darin besonders das Wohl der Schwächeren – Vorrang vor den Interessen der Einzelperson. Dabei ist jedoch zu gewährleisten, dass dadurch die Einzelperson keinen wie immer gearteten Schaden erleidet.

Mehr als (individuelle) Freiheit

In der Bibel liegt die Urerfahrung von Freiheit in der Befreiung des Volkes Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten durch Gott. Daraus erwächst der Auftrag Unfreiheit zu lösen und sich von versklavenden Kräften frei zu machen. Eine eigene Theologie der Freiheit entwickelt der Apostel Paulus. Dabei sieht er Freiheit als ein Geschenk Gottes, der den Menschen aus den Mächten der Sünde, des Gesetztes und des Todes befreit. Der Maßstab der Freiheit ist für Paulus nicht Ungebundenheit, sondern Liebe.

Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! (Röm 13,8)

Diese „Liebe“ des Nächsten ist Ausdruck der Gottesliebe und verdankt sich einer wohlverstandenen Selbstliebe. In diesem Sinne wächst innere und äußere Freiheit, wenn ich mir und anderen nichts „schuldig“ bleibe, weil ich mich in meinem Handeln von Gott gerufen und getragen weiß.

Füreinander verantwortlich

Wenn ich dieser Spur des Apostels Paulus folge, wird für mich die Frage der Corona-Impfung weniger zu einer Frage individueller Freiheit, sondern mehr zu einer Frage wechselseitiger Verantwortung. So treffe ich in meinem Alltag auf Menschen, die alle Verordnungen und Regeln gewissenhaft einhalten aber auch auf solche, die die Maßnahmen für völlig überzogen halten und auf wieder andere, die eine Impfung vorerst oder kategorisch ablehnen. In diesen wechselnden Situationen fällt es mir oft schwer, mich „angemessen“ zu verhalten. Was ich jedoch bei beinahe allen Menschen, die mir in den letzten Monaten begegnet sind, beobachtet habe und schätze ist der Respekt vor der Meinung des anderen und die Bereitschaft zur Rücksichtnahme. Das löst nicht alle Spannungen, weitet aber wie ich meine den Raum, damit sich jede und jeder (dennoch) möglichst gut entfalten kann.